Das Tollkirschen-Gift Atropin stellt die Pupillen weit. Vorbeugend ins Auge getropft, kann es Kurzsichtigkeit bei Kindern bremsen.

Mehr Durchblick. In Studien hat sich gezeigt, dass niedrig dosierte Augentropfen mit Atropin gegen Kurzsichtigkeit helfen.

Bei der Kurzsichtigkeit (Myopie) ist Vererbung im Spiel. 24 an Myopie beteiligte Gene wurden inzwischen identifiziert. Doch das Problem hat in den letzten Jahrzehnten derart eindeutig zugenommen, dass auch Veränderungen des Lebensstils dahinterstecken müssen. In einigen asiatischen Ländern sind mehr als 90 Prozent der 20-Jährigen mehr oder weniger stark betroffen, in Europa immerhin 47 Prozent der 25-Jährigen.

In diesem Alter ist die Entwicklung, die überwiegend im Grundschulalter beginnt, meist zum Stillstand gekommen. Die Brillengläser oder Kontaktlinsen müssen nicht von Jahr zu Jahr stärker werden, man kommt im Alltag zudem damit meist gut zurecht. Wer sehr stark kurzsichtig ist, hat aber ein erhöhtes Risiko, im Alter den Grauen oder Grünen Star, eine Netzhautablösung oder die gefürchtete Netzhauterkrankung Makula-Degeneration zu bekommen. Es ist also viel gewonnen, wenn man die Entwicklung einer starken Kurzsichtigkeit ein wenig bremsen kann. Am besten im Grundschulalter.

Wenn Menschen auf die Entfernung nur unscharf sehen, liegt das an zu lang gewachsenen Augäpfeln. Die Entfernung von Hornhaut und Linse zur Netzhaut ist größer als bei Normalsichtigen. Die Lichtstrahlen bündeln sich deshalb in der optischen Achse schon vor der Netzhaut. Ein Mittel, mit dem man den Prozess verlangsamen könnte, sind spezielle Kontaktlinsen. Diese Multifokallinsen gleichen einerseits die zentrale Kurzsichtigkeit, andererseits aber auch die umgekehrten Probleme in der Peripherie aus und mindern so den Verlauf der Sehschwäche.

Atropin wurde schon vor mehr als 100 Jahren erprobt

Diese Kontaktlinsen kommen allerdings längst nicht für alle Kinder infrage, und im Vergleich zu einem weiteren Mittel ist ihre Wirkung bescheiden. Die Rede ist vom Atropin. Schon der Breslauer Augenarzt Hermann Cohn hatte die Substanz Ende des 19. Jahrhunderts in seinem „Lehrbuch der Hygiene des Auges“ erwähnt. Atropin ist ein Alkaloid, das in der Natur in Nachtschattengewächsen wie der Tollkirsche vorkommt und am Auge dafür sorgt, dass die Pupillen weit werden. Wegen der Nebenwirkungen, die der giftige Stoff vor allem bei dauerhafter Anwendung hat, schien Atropin als Medikament, das man Kindern jahrelang zur Vorbeugung geben könnte, aber nicht in Betracht zu kommen.

Das hat sich nun geändert, wie kürzlich beim diesjährigen Kongress der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft im Berliner Hotel Estrel deutlich wurde. „Erst neuere Studienergebnisse mit niedrig dosiertem Atropin lassen diesen Ansatz als ernsthafte Option erscheinen“, sagte dort Wolf Lagrèze, Augenarzt am Universitätsklinikum Freiburg.

Schon eine niedrige Dosis führt zum Erfolg

Unter den 90 Untersuchungen, die zur Wirkung der stark verdünnten Atropin-Tropfen auf kindliche Kurzsichtigkeit erschienen sind, sticht die „Atom“(Atropine in the Treatment of Myopia)-Studie von Audrey Chia und ihren Mitarbeitern aus Singapur hervor, weil in ihr der Einfluss der Augentropfen in verschiedenen Konzentrationen und im Vergleich zu einem Präparat ohne Wirkstoff über einen längeren Zeitraum untersucht wurde. Zwar waren dort zunächst etwas höher dosierte Tropfen wirksamer, doch auf die Dauer erwies sich eine allabendliche Gabe von Tropfen in einer Konzentration von 0,01 Prozent als wirkungsvoll.

Bei der Auswertung von 16 Studien ergab sich, dass Atropin-Tropfen in dieser geringen Konzentration eine Zunahme der Myopie um 0,68 Dioptrien pro Jahr verhindern. In dieser Verdünnung gibt es kaum Nebenwirkungen, die Anpassung des Auges an Naharbeiten wie das Lesen ist am folgenden Morgen nur leicht gemindert, wie Lagrèze von einer eigenen Untersuchung in Freiburg berichtete. Keines der Kinder habe über Sehstörungen geklagt. Atropin greift in den Stoffwechsel des Hirnbotenstoffes Dopamin ein. „Bisher gibt es jedoch nur Spekulationen zum Wirkmechanismus“, sagte Lagrèze.

Atropin-Studien im europäischen Kulturkreis sind noch Mangelware

Noch sind die verdünnten Tropfen nicht zur Behandlung starker Kurzsichtigkeit zugelassen. Sie müssen in Apotheken hergestellt werden. Fast alle neuen Studien zu Atropin erfolgten mit asiatischen Kindern. Bisher fehlen noch gut angelegte Untersuchungen, in die auch eine größere Anzahl von Heranwachsenden mit heller Iris einbezogen wären.

Atropin und auch Multifokallinsen können helfen, eine schon eingetretene Entwicklung zu bremsen. Um ihr vorzubeugen, hilft ein natürliches Mittel, das im Leben unserer Vorfahren eine größere Rolle spielte als in dem der meisten Zeitgenossen: Tageslicht. Studien belegen, dass Kinder, die wenig ins Freie kommen und in geschlossenen Räumen viel lesen und an Bildschirmen sitzen, ein höheres Risiko tragen, kurzsichtig zu werden. Augenärzte raten deshalb dringend dazu, dass Kinder mindestens zwei Stunden am Tag draußen spielen.

Dass es das Risiko erhöht, kurzsichtig zu werden, wenn man bei schlechtem Licht viel liest, schreibt und andere Naharbeit verrichtet, ist schon länger bekannt. Der bereits erwähnte Augenarzt Hermann Cohn plädierte deshalb dafür, Kinder nur in den hellen Mittagsstunden lesen zu lassen, in den Ferien lieber gar nicht. Und die Beleuchtungsverhältnisse in den Schulen zu verbessern: Sein eigenes Gymnasium bezeichnete er später als „augenmörderisch“. Cohns 1867 erschienene „Untersuchungen der Augen von 10.060 Schulkindern, nebst Vorschlägen zur Verbesserung der den Augen nachteiligen Schuleinrichtungen“ führten dazu, dass das Gymnasium einen Neubau bekam, der mehr Tageslicht einließ.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Team Liquid gewinnt auch Blast Series Pro in Los Angeles

Los Angeles (dpa) – Unaufhaltsam hat sich Team Liquid bei der Blast Pro Series in Los Ange…