Welche Rolle spielt Ästhetik in den Naturwissenschaften? Wissenschaftler diskutieren, ob „schöne“ Experimente die Forschung antreiben – oder sie blockieren.

Das Farbenspektrum Newtons – auch Newton selber empfand das als besonders schönes Experiment.

Schönheit in der Physik – das erschließt sich vielleicht nicht jedem gleich in der sechsten Klasse. Aber nach einigen Jahren empfindet so mancher diesen Zusammenhang, mancher sieht ihn auch als Wegweiser auf dem Pfad zu neuer Erkenntnis, mancher gar als Dogma, das das Denken bestimmt und vom Weg der Erkenntnis fortführt. Sagen zumindest die Kritiker.

Doch welche Rolle spielt die Ästhetik in den Naturwissenschaften wirklich? Dieser Frage versucht sich Olaf Müller, Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität Berlin, seit langem zu nähern.

Das Farbspektrum Newtons

Seit 15 Jahren, so erzählt er bei der Vorstellung seines neuen Buchs am Dienstagabend im HU-Senatssaal, lasse er sich von Physikern Experimente zeigen. „Es durchflutet mich mit Freude, wenn ich diese Schönheit sehe.“ Besonders angetan hat es Müller die Versuchsreihe Isaac Newtons, bei der er einen Sonnenlichtstrahl durch ein Prisma in die Dunkelkammer fallen ließ, wodurch der Strahl in alle Farben des Regenbogens auffächert. „Man kann sich kaum sattsehen an den Farben des Spektrums“, schwärmt Müller und kommt sogleich auf die Umkehrung zu sprechen. Wenn weißes Licht sich so zerlegen lässt, so überlegte Newton, muss das farbige auch wieder zurück ins weiße gemischt werden können. Anders ausgedrückt: Was vorwärts geht, geht auch rückwärts.

Newton schaffte es, war aber nicht zufrieden, zu schmutzig sah das Ergebnis aus. Bis zu seinem Lebensende veröffentlichte der Physiker ein halbes Dutzend dieser „Weißsysnthesen“. „Auch in der Mathematik sehen wir oft, dass ein und derselbe Satz zigfach bewiesen wird – aber warum?“, fragt Müller. Er bietet folgende Antwort an. „Sie waren unzufrieden, das Resultat war nicht schön genug.“ Bekanntermaßen gelang die Weißsynthese dank einer speziellen Ausrichtung eines Prismas, die John Desaguliers entwickelt hatte. Sie besticht durch strahlendes Weiß und den Beweis der Symmetrie. „Was vorwärts geht, geht auch rückwärts.“

Symmetrien spielen eine große Rolle in der Physik

Symmetrien spielen überhaupt eine große Rolle in der Physik, in Experimenten wie in Theorien, argumentiert Müller weiter. „Hätten wir Menschen keinen Schönheitssinn, so hätten wir eine ganz andere Physik“, sagt er und formuliert eine wesentliche Botschaften des Buches.

„Ein wirklich großes Werk; ein riesiger Stoff, der auf wunderbare Weise dargeboten wird“, wie Horst Bredekamp. Kunsthistoriker an der HU, meint. Auch er sieht für sein Fachgebiet eine große Kraft in Symmetrien. Doch mindestens ebenso bedeutsam seien Symmetriebrüche, kleine Abweichungen wie beim David von Michelangelo, dessen Hände und Kopf unverhältnismäßig groß sind gegenüber dem Rest seines ansonsten perfekt gestalteten Körpers. „Das macht ihn noch faszinierender.“ Oder eine minimale Abweichungen bei der Ausrichtung der Herrenhäuser Gärten in Hannover. Gerade das Wechselspiel aus Symmetrien und Symmetriebrüchen schaffe eine Lebendigkeit in der Kunst, sagt Bredekamp. Die Rolle der Brüche vermisse er in Müllers Buch.

Wo Kepler irrte

Holm Tetens, Philosoph an der Freien Universität, wirft in seiner durchweg positiven Besprechung des Werks mehrfach die ketzerische Frage auf: Müssen Experimente und Theorien in der Physik nicht in erster Linie und vor allen Dingen wahr sein? Gut möglich, dass bei der Weiterentwicklung von Theorien das ursprünglich Schöne sich in den neuen Verästelungen verliert, es unschön und hässlich wird. „Dann sollten wir noch einmal von vorn beginnen und gegebenenfalls auch Messdaten freier interpretieren“, entgegnet Müller. So wie Kepler, der die naturgemäß fehlerbehafteten Messungen der Planetenpositionen so „interpretiert“ habe, bis aus den damals als schön geltenden kreisrunden Planetenbahnen elliptische wurden.

An dieser Stelle gerät die Argumentation tatsächlich in Schwierigkeiten. Heute weiß man, dass die Orbits elliptisch sind. Keiner käme auf die Idee, diese Form als „hässlich“ zu bezeichnen. Was eben auch bedeutet, dass sich der Schönheitsbegriff im Lauf der Zeit ändert, wie die Theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder vom Frankfurt Institute for Advanced Studies erklärt. Sie ist so etwas wie der Gegenpol zu Müller. Mit ihrem Buch „Das hässliche Universum“ rechnet sie mit dem „Schönheitswahn der Theoretischen Physik“ ab, der ihrer Meinung nach dazu beiträgt, dass es seit Jahrzehnten keinen Durchbruch in der Grundlagenphysik mehr gab und der mittlerweile in Konflikt mit wissenschaftlicher Objektivität gerät.

Ein Überschuss an „schönen“ Theorien

Sie bezieht sich vor allem auf die Teilchenphysik, wo mit dem Wunsch nach Symmetrie immer neue Partikel postuliert werden, die der Large Hadron Collider am Kernforschungszentrum Cern in Genf nicht fand (mit Ausnahme des Higgs-Bosons) und auch der geplante Nachfolger, der Future Circular Collider, ihrer Meinung nach kaum große Entdeckungen machen wird.

Müller argumentiert mit einer Vielzahl von Fällen, wo sich die Schönheit als erfolgreiches Prinzip erwiesen habe, mehr Fälle als nach dem Zufallsprinzip zu erwarten wäre. Ist das wirklich so? Und falls ja, was ist der Grund für den Überschuss an „schönen Theorien“? Hossenfelder und Müller kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. Was sie eint, ist der gleiche Verlag, der ihre Bücher herausgegeben hat – und damit eine gute Basis für weitere Diskussionen schafft.

Olaf Müller: „Zu schön, um falsch zu sein“ (2019), Verlag S. Fischer, 576 Seiten, gebunden, 34 Euro; Sabine Hossenfelder: „Das hässliche Universum – Warum die Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt“ (2018), Verlag S. Fischer, 368 Seiten, 22 Euro.

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