20 Milliarden Euro: Die neue Teilchenrennbahn bei Genf wird nicht billig. Und selbst Physiker zweifeln an ihrem Nutzen.

Ring of Desire. Der neue kreisrunde Teilchenbeschleuniger wäre, so er realisiert wird, das teuerste irdische Forschungsprojekt…

Die Maschine wäre atemberaubend. 100 Kilometer lang, in einem Tunnel unter der Erde verborgen, heruntergekühlt auf minus 271 Grad. Drinnen rasen Elementarteilchen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit umher, um irgendwann aufeinander zu prallen. Neue Teilchen entstehen und werden mit hausgroßen Detektoren vermessen. Am Ende entstehen neue Erkenntnisse, die Wissenslücken der Physik schließen. Hoffentlich.

Neues Gerät, aber keine neue Physik

Das ist die Crux dieser Maschine, des „Future Circular Collider“ (FCC). Sie soll den „Large Hadron Collider“ (LHC) ersetzen, der seit 2009 am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf läuft und bis etwa 2035 arbeiten soll. Doch kann diese Riesenmaschine das erfüllen, was sich die Forscher von ihr erhoffen? Oder droht der FCC, dessen Kosten auf bis zu 20 Milliarden Euro geschätzt werden, zum Milliardengrab zu werden?

Diese Fragen werden nicht nur in wissenschaftsskeptischen Kreisen diskutiert, sondern auch unter Physikerinnen und Physikern. Der LHC habe zwar das lange gesuchte Higgs-Teilchen aufgespürt, doch seitdem kam nichts Großes mehr, lautet die Argumentation der Kritiker. Bisher hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, mit dem Teilchenbeschleuniger Hinweise auf eine „neue Physik“ zu finden, die Lücken im bisherigen Theoriegebäude schließen könnte und etwa einen Weg zeigt, wie die Gravitation mit der Teilchenphysik verknüpft werden kann. Es ist fraglich, ob es dem LHC noch gelingt und falls nicht, ob es der Nachfolger schafft.

„Der FCC ist die 20 Milliarden Euro nicht wert.“

„Es ist eher unwahrscheinlich, dass der FCC bahnbrechend Neues findet“, meint Sabine Hossenfelder. Die Theoretische Physikerin am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und eine der Wortführerinnen aufseiten der Kritiker wirft die Frage auf, ob es nicht sinnvoller sei, das Geld in andere große Forschungsgeräte zu investieren, die mehr Erkenntnisse erwarten lassen. Für Hossenfelder – bekannt für kritische Zwischenrufe innerhalb ihrer eigenen Zunft, etwa in ihrem Buch „Das hässliche Universum“ – ist die Antwort klar: „Der FCC ist die 20 Milliarden Euro nicht wert.“

An seiner Größe ist, gemäß des derzeitigen Stands der Technik, nicht zu rütteln. Grundsätzlich geht es bei den Apparaten darum, Teilchen möglichst nahe an die Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen und dann zur Kollision zu bringen. Je schneller die Teilchen sind, desto mehr Energie haben sie. Dementsprechend können bei den Crashs neue Teilchen entstehen oder andere Phänomene auftreten, was bei kleineren Beschleunigern aufgrund der geringeren Energie nicht funktioniert. Der Ringbeschleuniger LHC schafft es, Protonenstrahlen so zu hetzen, dass sie eine Kollisionsenergie von 14 Teraelektronenvolt (TeV) erreichen. Der größere FCC soll Kollisionsenergien bis zu 100 TeV erzielen. Folglich lassen sich Prozesse studieren, die mit dem LHC nicht untersucht werden können. Die entscheidende Frage lautet: Wie spannend sind diese Prozesse?

Erst Higgs, dann nix?

„Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht“, sagt Thomas Naumann. „Aber gerade das macht Forschung ja aus, man stößt ins Unbekannte vor“, sagt der Gruppenleiter Teilchenphysik am Forschungszentrum Desy in Zeuthen bei Berlin, der zugleich am „Atlas“-Detektor am LHC beteiligt ist. Man müsse unterscheiden zwischen echten Entdeckungen und vorhergesagten. In die zweite Kategorie zählt etwa das Higgs-Teilchen. Es war der letzte fehlende Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik. Theoretiker und Vorarbeiten an anderen Beschleunigern hatten das Zielgebiet für das Higgs-Partikel ziemlich gut beschrieben. Der LHC war darauf getrimmt und wurde alsbald fündig. „Wir können nicht erwarten, dass die Natur uns solche Schätze wie das Higgs wie reife Äpfel in den Schoß legt“, sagt Naumann. Da müsse man auch Durststrecken hinnehmen, in denen manche theoretische Vorhersage sich als falsch erweist, wie etwa bei der Supersymmetrie („Susy“). Sie gilt als eine Erweiterung des Standardmodells, die auch die Dunkle Materie einschließt. Die Physikerinnen und Physiker hatten gehofft, mit dem LHC Hinweise auf „Susy“ zu finden, doch bisher kam nichts.

Die Behauptung, mit dem LHC habe man nichts außer dem Higgs gefunden, wollen viele der beteiligten Forscher trotzdem nicht stehen lassen. „Es wurden seitdem Hunderte Publikationen veröffentlicht, und da kommt noch eine ganze Menge“, sagt etwa Wolfgang Mader von der TU Dresden, der ebenfalls am Atlas-Detektor beteiligt ist. Die Präzision, mit der die Eigenschaften des Higgs und anderer Teilchen vermessen werden, sei spektakulär. „Solche Ergebnisse sind für die Physik sehr wichtig, aber sie schaffen es nicht in die Abendnachrichten.“

Ruhe im Beschleuniger

Für Physiker hat selbst eine Nichtentdeckung ihren Wert, meint Gian Francesco Giudice, Leiter der Theoretischen Physik am Cern. Da bisher keine neuen Teilchen gefunden wurden, ließen sich zahlreiche postulierte Theorien ausschließen. „So funktioniert Wissenschaft“, schreibt er in einem Aufsatz. „Experimente wirken wie eine natürliche Auslese, bei der einige Hypothesen aussterben und andere weiterentwickelt werden.“

Aktuell ruht der LHC und wird weiter aufgerüstet, um noch genauer messen zu können. Bis etwa 2035 soll er laufen. Wie der Nachfolger aussehen soll, wird schon jetzt diskutiert – Planung und Bau solcher Beschleuniger beanspruchen viel Zeit. Das Cern hat den FCC vorgeschlagen, Chinas Circular Electron Positron Collider (CEPC) ist etwas anders aufgebaut und soll 50 bis 70 Kilometer lang sein. „China macht in der Wissenschaft gewaltige Fortschritte“, sagt Desy-Forscher Naumann. „Aber bei allem Respekt für die Ingenieure, gibt es doch Skepsis in der Community, ob China aus dem Stand so einen großen Beschleuniger zum Laufen bekommt.“ Gleichwohl würde der CEPC auch beeinflussen, ob und wie der FCC gebaut würde, damit sich die Geräte sinnvoll ergänzen und nicht konkurrieren.

Auf kleine und damit günstigere Geräte macht sich Naumann keine Hoffnungen. Es gebe zwar revolutionäre Technologien wie die Plasma-Wakefield-Beschleuniger, die viel weniger Platz brauchen , aber die seien in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht praxisreif. Daher müsse man mit dem bekannten Inventar klarkommen. „Wer höhere Kollisionsenergien will, muss größer bauen“, sagt der Forscher. Man komme in der Beschleunigerphysik nun in die „Phase der Dinosaurier.“

Geld und Geduld

Und der Dino sei sehr wichtig. „Das Higgs-Teilchen ist eigentlich egal, wirklich spannend ist das Higgs-Feld, das den gesamten Kosmos durchzieht und Teilchen ihre Masse verleiht“, sagt Naumann. Über dieses Feld wisse man so gut wie nichts. „Also müssen wir ihm bei der Arbeit zuschauen, dafür brauchen wir den FCC.“ Und für all die Entdeckungen, die jetzt noch keiner erahnen könne.

Laut Hossenfelder sind allerdings kaum große Entdeckungen zu erwarten. „Wenn die erhofften neuen Teilchen eine Energie haben, die über dem Niveau des FCC liegt, wird man nichts finden.“ Sie plädiert daher, in andere Großgeräte zu investieren, die mehr versprechen, etwa Weltraumteleskope. „Das James Webb Space Telescope ist mit Kosten von zehn Milliarden Dollar inzwischen auch schon fast so teuer, doch es hat eine wesentlich bessere wissenschaftliche Motivation, denn es dürfte eher Hinweise auf Dunkle Materie entdecken als der FCC.“

Er scheue den Wettbewerb nicht, sagt Naumann. Es gebe viele spannende Forschungsthemen und die Finanzmittel seien limitiert. „Es ist absolut sinnvoll, nur den besten Anträgen zuzustimmen.“ Man dürfe aber nicht vergessen, dass Grundlagenforschung oft in anderen Zeiträumen funktioniere. „Beim Higgs-Teilchen lagen zwischen Vorhersage und Entdeckung 50 Jahre, bei den Gravitationswellen waren es sogar 100 Jahre“, sagt Naumann. „Für alles, was über das Standardmodell hinausgeht, werden wir wohl auch Geduld haben müssen.“

Infobox Teilchenbeschleuniger

Der Large Hadron Collider (LHC) am Cern ist der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt. Sein Umfang beträgt 26,7 Kilometer. Mehr als 9000 Magnete zwingen die rasenden Teilchen auf den Rundkurs. Sie werden dazu auf -271,3°C (1,9 K) heruntergekühlt. Die Anlage befindet sich unter der Erde, aus verschiedenen Gründen: Zum einen werden Tunnelanlagen genutzt, die für den Vorgänger namens LEP gebaut worden waren. Zudem war ein Tunnel billiger als das oberirdische Land zu kaufen. Und der Erdboden bietet auch eine gute Abschirmung gegen die gesundheitsgefährdende Strahlung während des Betriebs. Die Baukosten des LHC beliefen sich auf rund 6 Milliarden Euro. Der vorgeschlagene Future Circular Collider (FCC) soll einen Umfang von rund 100 Kilometern haben und zahlreiche technische Verbesserungen enthalten, auch solche, die erst noch entwickelt werden. Dazu gehören etwa besonders starke Magnete. Das wissenschaftliche Ziel besteht darin, Dinge zu ergründen, die mit dem Standardmodell der Physik nicht zu erklären sind. Dazu gehört der Nachweis Dunkler Materie, die Neutrinomasse sowie die Frage, warum es mehr Materie als Antimaterie gibt. Die Kosten für das Vorhaben werden derzeit auf rund 20 Milliarden Euro geschätzt. Sie könnten aber letztendlich noch deutlich höher liegen. nes

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