Algorithmen können gut rechnen, Erläutern ist nicht ihre Stärke. US-Forscher haben es ihnen jetzt beigebracht. Das könnte Ärzten im Alltag helfen.

Noch müssen Pathologen durchs Mikroskop schauen, um Blasenkrebs zu diagnostizieren.

Die Diagnose Blasenkrebs kann bisher nur ein Pathologe stellen. Der Arzt diagnostiziert die Krankheit anhand von sehr dünn geschnittenen Gewebeproben unter dem Mikroskop. Diese Biopsien richtig einzuschätzen ist schwierig und erfordert jahrelanges Training. Und so unterscheiden sich die Beurteilungen manchmal im Detail, je nachdem, wer sie vornimmt. Das kann auch Folgen für die Therapieentscheidung haben. Die Ergebnisse einer neuen Studie legen nahe, dass Technologie hier in Zukunft Ärzte sehr unterstützen – und Patienten damit helfen – könnte. Ein von amerikanischen Forschern entwickelter Algorithmus kann Blasenkrebs anhand von Gewebeschnitten in verschiedene Stadien einteilen. Das Besondere und Neue dabei ist: Die Künstliche Intelligenz kann ihre Ergebnisse angeblich für Ärzte nachvollziehbar machen. Das berichten Wissenschaftler um den Informatiker Zizhao Zhang von der Universität Florida im Fachblatt „Nature Machine Intelligence“.

Die Interpretation der Proben entscheidet über die Therapie

In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 30.000 Menschen an Blasenkrebs. Mittels einer Art erweiterter Blasenspiegelung wird der Tumor bestmöglich entfernt, für die endgültige Diagnose untersuchen Pathologen anschließend Gewebeproben unter dem Mikroskop. Richtig interpretiert geben sie beispielsweise Auskunft darüber, wie aggressiv der Tumor wuchs und ob es wahrscheinlich ist, dass er Absiedlungen bildet. Dann stellen sich weitere Fragen: Reicht die erste Entfernung schon aus? Muss noch einmal operiert werden? Ist eine Chemotherapie nötig? Beantworten lassen sie sich aber nur, wenn die Gewebeschnitte richtig gedeutet werden.


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Um das zu bewerkstelligen, kombinierten Zhang und seine Kollegen drei unterschiedliche so genannte neuronale Netzwerke. Das erste von ihnen erkennt in einer Gewebeprobe die Regionen, die bösartig verändert sind. Gleichzeitig identifiziert es Bereiche in der Nähe des Tumors, die der Diagnostik dienlich sein können. Das zweite neuronale Netz untersucht diese Regionen im Detail und klassifiziert die Art der Veränderungen: Ähneln sich die Zellkerne oder nicht? Wie lagern sich die Zellen zusammen? Gibt es besonders viele Kernteilungen? Das alles sind Merkmale, die dabei helfen, die Gefährlichkeit eines Tumors richtig einzuschätzen.

Der Algorithmus stellt die Diagnose – und erklärt sie

So weit ist das allerdings nichts qualitativ Neues. Auch in anderen Bereichen werden neuronale Netzwerke bereits seit einiger Zeit unterstützend zur Erkennung von Tumoren eingesetzt, etwa bei Hautkrebs. Die Leistung der Algorithmen ist dabei mit der von Fachärzten vergleichbar. Vergangenes Jahr machte ein von Google entwickelter Algorithmus Schlagzeilen. Anhand kleinster Veränderungen des Augenhintergrunds soll er das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen schon vor deren Auftreten vorhersagen können.

Bisher allerdings rechnen die Algorithmen meist ähnlich einer „black box“ vor sich hin und geben nur ein Ergebnis aus, ohne dass es Ärzten möglich wäre, den „Lösungsweg“ nachzuvollziehen und mit den eigenen Ergebnissen abzugleichen.

Deshalb gingen die Forscher um Zhang in ihrer Studie zum Blasenkrebs noch einen entscheidenden Schritt weiter. Sie fütterten ein drittes neuronales Netzwerk – genannt „a-net“ – mit den Informationen der anderen beiden Netze. Daraus erstellte der Algorithmus eine Diagnose in Form von Textfragmenten und Bildern. Sie sollen den behandelnden Ärzten erklären, wie der Computer zu seiner Einschätzung gekommen ist.

Dazu hebt er beispielsweise bestimmte Bereiche der Gewebeprobe farbig hervor und beschreibt in einem kurzen Text, was er darauf erkennt – etwa einen Bereich, in dem sich besonders viele Tumorzellen in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden. Am Ende steht eine Diagnose, etwa „low grade“ für einen gut differenzierten Tumor mit besserer Prognose oder „high grade“ für eine aggressivere Form.

Künstliche Intelligenz gegen 17 erfahrene Pathologen

Um das System zu testen, trainierten es die Forscher anhand von mehr als 600 Gewebeproben von Patienten mit bekanntem Blasenkrebs. Zuvor hatten vier Pathologen über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren diese Gewebeproben gesichtet, bei jeder einzelnen den Grad der Differenzierung eingeschätzt und innerhalb der Gewebeschnitte zusätzlich bestimmte Regionen von Interesse dokumentiert.

Nach dem Training ließen die Wissenschaftler ihren Algorithmus gegen 17 unabhängige Pathologen antreten. Beide Gruppen mussten 100 bisher unbekannte Gewebeschnitte bewerten. Dabei konnte das Modell den Durchschnittswert der Pathologen knapp übertreffen. Zusätzlich sei das Computersystem in seiner Leistung stabil geblieben, während die Diagnosegenauigkeit einiger Pathologen stark schwankte. Entscheidend sei aber, dass es gelungen sei, aus den errechneten Informationen automatisiert verständliche Zusammenfassungen und Diagnosen zu entwickeln.

„Wir glauben, dass unsere Methode ein innovatives und zuverlässiges Mittel zur Erstellung von Diagnosevorschlägen ist“, schreiben die Autoren. Nach ihrer Ansicht soll der Algorithmus damit als eine Art Zweitmeinung für Ärzte dienen und bei Unsicherheiten helfen können. Vor allem in kleinen Kliniken, wo oft nur wenige erfahrenen Pathologen arbeiten, könne die Methode dazu beitragen, die Diagnose zu sichern und anschließend die richtige Therapie einzuleiten.

„Der Mensch kann auf allgemeines Weltwissen zurückgreifen“

„Die klinische Relevanz dieses Modells ist außerordentlich hoch“ sagt Michael Muders, Direktor des Rudolf-Becker-Labors für translationale Prostatakarzinomforschung und Oberarzt der Pathologie am Zentrum für Pathologie des Universitätsklinikums Bonn. Das Modell stelle einen signifikanten Fortschritt bei der Verwendung von ‚machine learning‘ und künstlicher Intelligenz in der mikroskopischen Diagnostik dar. Gerade bei immer weiter steigenden Fallzahlen und dem zunehmenden Mangel an Pathologen sei dies eine gute Entwicklung.

Etwas kritischer sieht es Kristian Kersting, Leiter des Fachgebiets Maschinelles Lernen an der TU Darmstadt. „Erklärende KI-Systeme sind ein hochaktuelles Forschungsthema, die Forschung nimmt aber gerade erst so richtig Fahrt auf.“ Allgemein seien Erklärungen der KI-Systeme den Medizinern noch weit unterlegen. Der Mensch könne auf „allgemeines Weltwissen“ zurückgreifen, das weit über die Daten hinausgehe. Er könne seine Erklärungen begründen, weiter ausführen und revidieren. Das könne das System nicht. Auch in der aktuellen Studie bleibe leider „unklar, wie nützlich die gelieferten Erklärungen für Pathologen sind“. Da eine Benutzerstudie mit Pathologen nicht durchgeführt worden sei, müssten weitere Untersuchungen diese Frage klären.

Kann die KI auch andere Erkrankungen lesen?

Eine noch weitergehende solche Frage ist, ob die Ergebnisse zum Blasenkrebs auf andere Krankheiten übertragen werden können. Die Autoren bejahen das: Da ihr System in der Lage sei, aus komplexen Gewebestrukturen und Zellmustern zu lernen, lasse es sich auch auf viele weitere Krebsarten anwenden, glauben die Forscher. „Das erscheint naheliegend und auch einfach, solange die entsprechenden Daten vorliegen“ sagte Kersting. Damit könne das System neu trainiert und evaluiert werden.

In der Praxis aber könnte sich das als Problem herausstellen, betont Joachim Denzler, Informatikprofessor an der Universität Jena. „Im medizinischen Kontext ist das eine Herausforderung, da Datenschutz und Vertraulichkeit von Patientendaten eine wichtige Bedeutung haben.“ Gelinge es aber, könnten die Erklärungen in Textform künftig dabei helfen, dass Methoden der künstlichen Intelligenz besser akzeptiert würden. Dann könnten auch weniger erfahrene Mediziner auf diese Hilfe zurückgreifen und sie mit einem guten Gefühl anwenden.

Noch ist es nicht soweit, noch müssen Pathologen jede Gewebeprobe persönlich untersuchen und die behandelnden Ärzte bleiben auf ihre Beurteilung angewiesen. Aber sind die Ergebnisse der Algorithmen zuverlässig, dürften wohl nur wenige Mediziner etwas gegen ein wenig maschinelle Unterstützung einzuwenden haben. Vor allem, wenn die künstliche Intelligenz ihr Tun nachvollziehbar erklärt. (mit SMC)

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