Demenz früh zu diagnostizieren ist sinnvoll, sagen Experten. Denn man kann die Situation beeinflussen.

Herausforderung fürs Hirn. Kognitive Anregungen helfen Demenzpatienten, den Geist wach zu halten.

Alzheimer macht Angst. „Umfragen zufolge ist sie mindestens so groß wie die vor Krebs“, sagt Wolfgang Maier. Trotzdem sind Alzheimer und andere Formen von Demenz nach Ansicht des Direktors der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bonn immer noch Stiefkinder der Medizin. Unter Federführung seiner Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) haben 23 Fachgesellschaften, Berufsverbände und andere Organisationen jetzt eine aktualisierte Leitlinie zu diesen „Stiefkindern“ veröffentlicht. Es habe deutliche Verbesserungen in Diagnostik und Therapie gegeben, sagte Maier bei der Vorstellung des 133 Seiten umfassenden Papiers.

Heilbar ist Demenz zwar nach wie vor nicht. In den letzten Jahren sind abermals einige Hoffnungen auf neue Ansätze zur medikamentösen Behandlung enttäuscht worden. „Dass man Demenzen nicht günstig beeinflussen könnte, ist allerdings eine falsche Vorstellung“, betont Maier. Das Wissen über ein kleines Arsenal von vier Medikamenten, die dem Verfall der kognitiven Fähigkeiten entgegenwirken, habe sich verfestigt, sagt der Neurologe Richard Dodel von der Universitätsklinik Marburg.

Das Gehirn ist lernfähig – auch in späteren Stadien

Aufgrund neuer Studienergebnisse sprechen die Experten zudem erstmals eine „eingeschränkte Empfehlung“ für einen Ginkgo-biloba-Extrakt (EGb 761) aus. Bei leichter bis mittelgradiger Demenz könne eine Behandlung mit dem pflanzlichen Präparat „erwogen werden“. Die Hoffnung, eine Demenz mit der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln aufzuhalten oder gar zu verhindern, wird dagegen nicht von Studien gestützt.

Stattdessen gibt es eine größere Anzahl guter Studien zu nichtmedikamentösen Behandlungsformen, obwohl solche Untersuchungen meist aus methodischen und finanziellen Gründen schwer zu realisieren sind. Neben körperlicher Aktivierung und Ergotherapie im häuslichen Umfeld gilt das für die Arbeit mit Erinnerungen aus der Lebensgeschichte, für künstlerische Aktivitäten und für kognitive Stimulation – die nicht mit Gehirnjogging gleichzusetzen ist. „Auch in späteren Stadien ist das Gehirn noch übungs- und lernfähig. Diese Ressourcen sollten genutzt werden“, sagte Maier. Die nebenwirkungsfreien Verfahren sollten in den Behandlungsplan integriert und von den Kassen bezahlt werden. Auch weil sie eine Alternative zur Fehlbehandlung mit verschiedenen Psychopharmaka darstellen.

Ablagerungen im Gehirn erkennen

„Die Zeit des diagnostischen und therapeutischen Nihilismus ist vorbei“, sagte Jörg Schulz von der Neurologischen Klinik der RWTH Aachen und ebenfalls Mitglied der Leitlinien-Expertengruppe. Menschen, bei denen es aufgrund deutlicher Vorzeichen Grund zur Besorgnis gibt, sie könnten eine Demenz haben oder entwickeln, sollte eine fachlich gute Früherkennung angeboten werden. Neben neuropsychologischen und Labor-Untersuchungen gehört dazu die Bestimmung von Stoffen im Nervenwasser, die auf degenerative Veränderungen im Gehirn hindeuten. Auch Amyloid-Ablagerungen im Gehirn, die man bei einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET) erkennt, unterscheiden eine Alzheimer-Krankheit von einer Demenz, die durch Veränderungen der Blutgefäße verursacht wird („vaskuläre Demenz“). An Bluttests, die diesen Unterscheidungen dienen, wird geforscht (mehr dazu finden Sie hier).

Massenscreening ist unsinnig

Auf keinen Fall sollten dagegen alle diese Methoden eingesetzt werden, um Menschen ohne Beschwerden in einer Reihenuntersuchung vorsorglich zu „screenen“, warnen die Experten. Kognitive Kurztests wie der Mini Mental Status-Test (MMST) seien dazu ohnehin nicht geeignet, weil sie zu Fehleinschätzungen in beide Richtungen führen können. Sie sind erst nützlich, wenn es konkrete Anhaltspunkte für eine Demenz gibt oder wenn ihr Schweregrad eingeschätzt werden soll.

Ohnehin können sie nicht verschiedene Formen der Demenz oder eine Depression, die neben der Stimmung auch das Gedächtnis beeinträchtigen kann, voneinander abgrenzen. Genau das kann aber relevant sein, wenn es um die Behandlung geht. 50 bis 70 Prozent der Demenzen sind Alzheimer-Erkrankungen, 15 bis 25 Prozent haben ihre Ursache in den Gefäßen. In einer österreichischen Studie, für die Gehirne von verstorbenen Demenzkranken untersucht wurden, hatten bis zu 20 Prozent aber auch eine Mischform.

Früh Klarheit haben

Wenn eine leichte kognitive Störung („Mild Cognitive Impairment“) ihre Ursache ganz oder teilweise in den Gefäßen hat, etwa in kleineren, unbemerkten Hirn-Infarkten, dann haben alle Maßnahmen eine Chance, die auch für das Herz gut sind: also Entdecken und Behandeln von zu hohem Blutdruck, von Typ-2-Diabetes oder zu hohen Blutfettwerten, Bewegung und ausgewogene Ernährung.

Doch was ist, wenn man ohnehin „gesund“ lebt? Will man dann mit Ende 60 wirklich wissen, dass die leichten Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, die man im Alltag bemerkt, Ausdruck einer beginnenden Alzheimer-Krankheit sind? Dass sie unweigerlich zu einer schweren Demenz führen werden? Ist es nicht besser, sich und die anderen möglichst lang vor der bitteren Wahrheit zu verschonen? In den letzten Jahren wurde immer klarer, dass es trotz allem Vorteile bringt, früh Klarheit zu haben – und das nicht allein, weil der Verlauf sich dann oft mit medizinischer Hilfe günstig beeinflussen lässt. Sondern auch, weil man selbst für die Zukunft planen kann, zum Beispiel eine Patientenverfügung verfassen und Personen des Vertrauens benennen, die für einen sprechen werden, wenn man nicht mehr einwilligungsfähig ist.

Die Diagnose kann familiäre Konflikte entschärfen

Ein großer Gewinn der Diagnose ist aber auch, dass sie familiäre Konflikte entschärfen kann: Die Angehörigen müssen sich nicht mehr über den vermeintlich „bösen Willen“ ärgern, wenn der Betroffene Aufträge nicht erledigt und Termine „verschusselt“. Selbstverständlich ist aber auch das „Recht auf Nichtwissen“ Bestandteil der neuen Leitlinie.

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