Die Dauerbehandlung einer vermuteten chronischen Borreliose mit Antibiotika ist zwecklos und riskant.

Infektiös. Blutsaugende Zecken können Borreliose übertragen.

Die amerikanische Seuchenbehörde CDC ist für ihre nüchternen Verlautbarungen bekannt. Hinter den fünf Fallberichten, die eine Gruppe von CDC-Mitarbeitern um Natalie Marzec von der Universität von Colorado gerade zusammengetragen haben, verbergen sich jedoch menschliche Tragödien. So starben in den USA eine Frau Ende 30 und ein ganz junges Mädchen, die beide unter Müdigkeit, Gelenkschmerzen und Konzentrationsstörungen gelitten hatten und bei denen die Diagnose „chronische Borreliose“ gestellt worden war.

Über einen Katheterschlauch hatten die Frauen monatelang Antibiotika-Infusionen bekommen. Damit sollte dem Bakterium zu Leibe gerückt werden, das ihre Behandler zur Ursache der Beschwerden erklärt hatten. Beiden Frauen wurden letztlich jedoch andere Keime zum Verhängnis, die sich über den Katheter in ihre Körper vorarbeiteten. Um dort schließlich eine Blutvergiftung, einen septischen Schock, auszulösen. Bei den drei anderen Patienten, über die die CDC-Mitarbeiter berichteten, lösten die Langzeit-Infusionen bakterielle Infektionen aus, die zu schweren Entzündungen im Darm und an der Wirbelsäule führten.

Keine Beweise, dass Antibiotika helfen

Wer längere Zeit Infusionen bekommt, lebt mit dem Risiko, dass solche Komplikationen auftreten. Umso wichtiger, dass die Behandlung einen medizinischen Nutzen hat. Genau hier liegt aber bei den geschilderten Fällen der Hase im Pfeffer. Bisher fehlen hieb- und stichfeste Belege dafür, dass der Langzeitbeschuss mit Antibiotika gegen die quälenden Symptome der Betroffenen etwas ausrichten kann.

Unbestritten ist dagegen, dass man zu Beginn schnell handeln sollte. Wenn einige Tage bis Wochen nach einem Zeckenstich die für eine Infektion mit Borrelien charakteristische Wanderröte rund um die Einstichstelle auftritt, sind Antibiotika sinnvoll. Bei der Wanderröte breitet sich das gerötete Areal allmählich kreisförmig aus. Tests, mit denen nach Antikörpern gegen die Erreger gefahndet wird, schlagen zu diesem frühen Zeitpunkt in etwa der Hälfte der Fälle noch nicht an. Man sollte mit ihnen keine Zeit verlieren.

Wenn die charakteristische Rötung fehlt und die Infektion deshalb unbemerkt bleibt, kann es deutlich später zu reißenden Schmerzen in Nervenwurzeln, zu einer ein- oder beidseitigen Gesichtslähmung oder einer Hirnhautentzündung kommen. Bei einigen der Betroffenen schwellen auch die Kniegelenke an und schmerzen (Lyme-Arthritis), in anderen Fällen zeigen sich später charakteristische Veränderungen an der Haut, die sich bläulich verfärbt und wie Pergament wirkt. In seltenen Fällen passiert das sogar trotz vorheriger Antibiotika-Therapie der Wanderröte.

Müdigkeit und Erschöpfung wird auf „Borreliose“ zurückgeführt

Manche Menschen führen diffuse Schmerzen, Müdigkeit und Schwierigkeiten mit der Konzentration auf eine Borreliose zurück. Leiden sie alle an einer „chronischen Borreliose“? Der Neurologe und Borreliose-Experte Sebastian Rauer von der Uni Freiburg hat sich im Interview mit dem Medizinerportal „Medscape“ dafür ausgesprochen, nur dann von einem „Spätstadium“ der Borreliose zu sprechen, wenn die typischen Hautveränderungen, die Arthritis oder neurologische Symptome darauf hindeuten. „Manche Borreliose-Experten tendieren ja unglücklicherweise dazu, eine ganze Reihe von Beschwerden – etwa ständige Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Muskel- und Gelenkschmerzen – auf eine chronische Borreliose zurückzuführen“, kritisiert der Neurologe.

Klar ist: Das sind Beschwerden, die Ärzte ernst nehmen sollten. „Dass es diesen Menschen nicht gut geht, ist nicht Gegenstand der Debatte – sie sind offensichtlich krank“, war schon 2002 in einem Beitrag im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ zu lesen. Doch was haben sie? Bündeln von Symptomen das Etikett „chronische Borreliose“ anzuheften, kann gefährlich werden, weil so andere Ursachen unentdeckt bleiben.

„Bevor Sie Beschwerden einer Borreliose in die Schuhe schieben, müssen Sie auch nach anderen Krankheiten suchen“, mahnt der Neurologe Roland Nau von der Göttinger Uniklinik. 2009 hat er zusammen mit Kollegen Daten aus der Neuroborreliose-Sprechstunde der Uniklinik ausgewertet. Neun der 122 Patienten hatten eine akute Borreliose und mussten mit Antibiotika behandelt werden. 40 Prozent der übrigen Patienten hatten aber eine Erkrankung, die nichts mit einer Borrelien-Infektion zu tun hatte. Etwa eine Infektion mit Viren, gegen die Antibiotika nichts ausrichten, eine rheumatoide Arthritis oder eine Depression. „Eine chronische Erschöpfung mit Sehnen-, Gelenk- und Muskelschmerzen in mehreren Körperregionen kann auf eine Fibromyalgie zurückgehen, die heute mit Ausdauersport und einem Antidepressivum in niedriger Dosierung behandelt wird“, sagt der Neurologe.

Tests zu Borreliose können in die Irre führen

Auch zu dem Rheumaexperten Andreas Krause vom Berliner Immanuel-Krankenhaus kommen immer wieder Patienten, die nicht unter einer Lyme-Arthritis, sondern unter etwas ganz anderem leiden, von altersbedingten Verschleißerscheinungen bis hin zu bösartigen Erkrankungen. Auch der Rheumatologe betont, wie wichtig es ist, die Schilderungen ernst zu nehmen.

Ausführliche Gespräche sind das A und O der guten Behandlung. Krause erklärt dabei zunächst, dass eine Arthritis, die auf eine Borreliose zurückgeht, aufgrund der guten und frühen Behandlungsmöglichkeiten heute sehr selten geworden ist. Er muss vielfach auch erklären, dass Tests angeboten werden – „leider oft auch von Ärzten“ –, die von Ansatz her unsinnig sind, wie etwa ein Graustufentest wegen angeblich Borreliose-bedingter Sehstörungen. Dazu kommen plausiblere, aber wenig aussagekräftige Tests wie der Lymphozyten-Transformationstest, der häufig auf Borrelien hinweist, wo keine da sind. Alles Untersuchungen, die die Patienten selbst zahlen müssen.

Tests auf Antikörper gegen die Bakterien im Blut sind dagegen prinzipiell sinnvoll. Allerdings ist es im Fall der Borreliose kompliziert, ihr Ergebnis zu deuten. Sicher ist, dass der Nachweis von Antikörpern im Blut gelingt, falls jemand wirklich schon wochen- oder monatelang mit Borrelien infiziert ist. Sind keine Antikörper vorhanden, kann es sich folglich nicht um eine schon länger bestehende Borreliose handeln. „Finden sich Antikörper im Blut, so heißt das umgekehrt aber noch lange nicht, dass dort auch lebende Borrelien wären“, erläutert Nau. Bei sechs bis 13 Prozent der gesunden Bevölkerung würde ein solcher Test nämlich positiv ausfallen. Ihr Immunsystem hat irgendwann früher schon einmal mit den Bakterien Kontakt gehabt. Bei Beschwerden des Nervensystems, die von einer Borreliose herrühren könnten, empfiehlt der Neurologe deshalb die aussagekräftige Untersuchung des Nervenwassers.

Was genau im Organismus passiert, wenn sich echte Spätfolgen bemerkbar machen, ist nicht geklärt. Eine Möglichkeit ist, dass die Krankheit zwar überwunden ist, aber bleibende Schäden zurückgelassen hat. Eine andere Erklärung lautet, dass sich Abwehrprozesse des Immunsystems verselbstständigt haben und später zu Autoimmunreaktionen führen. Gegen beides sind Antibiotika machtlos. Was aber nicht heißt, dass man nichts machen könnte. „Wir behandeln auf jeden Fall die Symptome, bei entzündlichen Prozessen wenden wir Therapien an, die auch bei klassischem Gelenkrheuma wirken“, erläutert der Rheumatologe Krause.

Zur Langzeitgabe von Antibiotika, an der jetzt zwei Menschen starben, haben die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA um die Jahrtausendwende zwei Studien finanziert. Sie wurden mangels Nutzen abgebrochen. Auch eine niederländische Studie verlief 2016 erfolglos.

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