Über die Faszination, das Gestern zu entdecken.

Himmelsscheibe von Nebra, Bronze und Gold, um 1600 vor Christus.

Nach zahllosen unfassbaren Gefahren betritt unser Held, idealerweise mit Peitsche und Hut, tiefunterirdische, verborgene Räume voll sagenhafter Schätze längst vergessener Königreiche, die ihn gleißend überwältigen, um ihn sofort in neue Abenteuer zu stürzen. Ob im Roman, Märchen oder Film – hier handelt es sich um einen Grundmythos der Moderne, an dem wir uns alle, ob Kind oder Erwachsener, immer wieder schaudernd erfreuen. Umso beeindruckender ist, dass dies tatsächlich immer wieder geschieht, und zwar in einer ansonsten nüchternen und trockenen Wissenschaft, der Archäologie.

Nur auf der Grundlage unerschütterlichen Selbstvertrauens und Wagemutes gelang es Heinrich Schliemann, die Goldschätze Trojas und Mykenes zu entdecken. Chinesische Archäologen standen in den peripheren Beigabengruben des Grabes von Qín Shihuángdìs, dem Einiger Chinas (221 v. Chr.) plötzlich lebensgroßen Terrakotta-Armeen gegenüber, die sie in unveränderter Schlachtaufstellung anblickten, als hätten sie 2000 Jahre auf diesen Augenblick gewartet. All dies begeistert und fasziniert uns stets aufs Neue.

Google Earth beendet die Fluchtmöglichkeiten der Fantasie

In einer arbeitsteiligen Gesellschaft übernimmt die moderne Archäologie die Aufgabe des stellvertretenden Entdeckers, der in einem jeden von uns schlummert. Worin liegt aber nun diese Faszination der Archäologie?

Zuallererst sicherlich an dem erwähnten Schatzfundcharakter, in noch höherem Maße aber wohl an der Entdeckung selbst. Noch vor 100 Jahren wiesen unsere Landkarten im Innersten Afrikas weiße Flecken auf. Diese können wir heute in Google Earth besuchen und feststellen, dass sich dort bloß Wellblechhütten in den Flusswindungen des Kongos verbergen.

Google Earth beendet somit die letzten Fluchtmöglichkeiten der Fantasie. In dieser scheinbar totalen Kenntnis der Oberfläche kann die wahre Erkenntnis nur aus der Tiefe kommen. Sei es die Tiefsee oder seien es die vergrabenen Schätze der Vergangenheit, die immer wieder aufgedeckt und nur durch die Archäologen erklärt werden können. In einer materiell durchdrungenen Welt erfreuen uns gerade die Entdeckungen des bislang Unbekannten, ja Unerklärlichen und oft Rätselhaften.

Die wichtigsten Entdeckungen sind nicht Goldschätze

Am spannendsten sind hier nicht Funde aus Gold und Silber, sondern solche, die sich schwer deuten und der Fantasie Raum lassen, wie etwa der rätselhafte Diskos von Phaistos oder die Himmelsscheibe von Nebra. An deren Deutung haben sich über das Internet Tausende von Menschen beteiligt; inzwischen haben mehrere Millionen Menschen die Himmelsscheibe im Original und über 500 Millionen sie in den Medien gesehen. Hier ruht die Faszination in einer Mischung aus Schatzfundcharakter und der aufregenden Kriminalgeschichte des Erwerbes, vor allem aber in der komplizierten Dekodierung des mehr als 3600 Jahre verborgenen Codes, der uns schließlich eine Anleitung zur Erstellung eines Lunisolarkalenders gab, wie wir ihn für die Bronzezeit bis dahin für ausgeschlossen hielten.

Dies ist die Bedeutung der wahrhaft großen Funde in der Archäologie. Sie bestehen nicht nur aus Schätzen, sondern sie leiten auch in der Wissenschaft einen Paradigmenwechsel ein, der unser Geschichtsbild dauerhaft verändert. Die wichtigsten Entdeckungen sind nicht Gold- und Silberschätze, sondern jene wie Ötzi oder Lucy, die uns selbst in einem anderen Licht erscheinen lassen. Denn alles, was wir über Millionen Jahre Menschheitsgeschichte erfahren können, können wir nur mittels archäologischer Quellen erschließen. Diese bieten den einzigen Zugang zum Verständnis unserer Ursprünge und damit zu einem Ansatz des Verständnisses unserer Zukunft.

Prof. Dr. Harald Meller ist Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt.

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