Der Japaner Yoshinori Ohsumi bekommt den Nobelpreis für seine Erforschung der Autophagie. Sie hilft Zellen, Hunger, Stress und Keime zu überleben.

Anruf vom Chef. Kurz nach Bekanntgabe des Nobelpreises gibt Yoshinori Ohsumi eine Pressekonferenz – und bekommt einen Anruf vom…

Wer dieses Jahr über den möglichen Gewinner des Medizin-Nobelpreises spekulierte, wird die Genschere „Crispr/Cas9“ oder die Immuntherapie bei Krebs im Sinn gehabt haben – heiße Themen, die es sogar in die Abendnachrichten geschafft haben. Aber Autophagie? Ungerührt von öffentlichen Erwartungen und medialen Hypes hat das Stockholmer Nobelpreis-Komitee mit der Autophagie ein Thema als preiswürdig anerkannt, dass zwar allgemein wenig bekannt, aber von zentraler Bedeutung für das Überleben von Zellen ist.

Mit Autophagie (etwa: „sich selber essen“) bezeichnet man den Vorgang, bei dem Zellen eigene Bestandteile abbauen und wiederverwerten. Er findet sich bei Hefepilzen wie bei Pflanzen und Tieren, ist also ein im Lauf der Evolution nur wenig veränderter Prozess. Das Ziel der Autophagie für die Zelle besteht nicht zuletzt darin, durch das Recycling Energie zu sparen. Darüber hinaus ist sie wichtig bei der Entwicklung eines Organismus, der Abwehr von Krankheitserregern, bei Hunger und anderen Stressereignissen und bei bestimmten Krankheiten wie Krebs, Parkinson (Schüttellähmung) oder Diabetes (Zuckerkrankheit).

Verbrauchte Zellbestandteile werden ausgemustert

Bei der Autophagie werden zunächst verbrauchte oder defekte Zellbestandteile wie etwa Mitochondrien (die „Kraftwerke“ der Zelle) von einer doppelschichtigen Membran umschlossen. Solche mit „Zellmüll“ gefüllten Bläschen heißen Autophagosomen. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, den Abfall zu den Lysosomen zu transportieren. Lysosomen sind mit Verdauungsenzymen gefüllte Kügelchen, die im Zellplasma umherschwimmen. Zehn bis 20 Minuten nach seinem Entstehen hat das Autophagosom sein Ziel gefunden und verschmilzt mit dem Lysosom. Nun kann der Müll biochemisch zerlegt und wiederverwertet werden.

Es war der Entdecker der Lysosomen, der belgische Biochemiker Christian de Duve, der auf die Selbstverdauung in der Zelle aufmerksam wurde und 1963 den Begriff „Autophagie“ prägte. Lange blieb im Dunklen, was im Einzelnen bei diesem Prozess geschieht, bis sich Yoshinori Ohsumi von der Universität Tokio Anfang der 1990er Jahre mit dem Phänomen zu beschäftigen begann.

Der Zellbiologe studierte die Autophagie an Hefezellen, deren Pendant zum Lysosom der Säugetiere die ähnlich aufgebaute Vakuole ist. Zunächst schaltete er Gene aus, die den Bauplan für Verdauungsenzyme in den Vakuolen enthielten. Nach kurzer Zeit sammelten sich daraufhin im Lichtmikroskop gut sichtbare müllgefüllte Autophagosomen in der Vakuole an. Da keine Verdauungsenzyme vorhanden waren, konnten sie auch nicht mehr aufgelöst werden. Damit war der Beweis erbracht, dass auch Hefezellen Autophagie betreiben.

Der Preisträger entdeckte 15 Gene für Selbstverdauung

Ohsumi ging nun daran, jene Gene zu finden, die an der Autophagie selbst beteiligt waren. Er behandelte die Hefezellen mit einer Chemikalie, die genetische Veränderungen (Mutationen) hervorrief und bestimmte Erbanlagen ausschaltete. Danach ließ er die Hefezellen hungern. Infolge des Mangelzustands wird bei intakter Autophagie die Selbstverdauung erhöht und die Vakuolen schwellen an. Die Zelle verdaut nicht benötigte Bestandteile, um auf diese Weise ihr Überleben zu sichern. Ist jedoch ein Gen für Autophagie defekt, dann kann der Prozess nicht anlaufen. Die Vakuolen bleiben leer, trotz Hungerns. Mit diesem Vorgehen gelang es Ohsumi, innerhalb kurzer Zeit 15 Erbanlagen ausfindig zu machen, die mit Autophagie verknüpft waren, wie er 1993 im Fachblatt „FEBS Letters“ berichtete.

Grundlegend wichtig. Die Autophagie spielt bei zahlreichen Vorgängen in der Zelle und im Organismus eine Rolle.

Damit war klar, dass die Selbstverdauung durch eine Reihe von Eiweißen (Proteinen) präzise gesteuert wurde. Nun waren Oshumi und seine Mitarbeiter maßgeblich daran beteiligt, die Aufgaben der einzelnen Proteine bei der Autophagie zu beschreiben. Und sie waren die ersten, die die Pendants der Hefezellen-Gene bei Säugetieren entdeckten.

Ohsumis Pionierarbeit habe ein enormes Interesse an Autophagie geweckt, lobt das Nobelpreis-Komitee. „Das Gebiet ist zu einem der am intensivsten erforschten in der Biomedizin geworden.“ Insbesondere seit den frühen 2000er Jahren habe die Zahl der Publikationen deutlich zugenommen.

Krebszellen überleben dank Autophagie

Autophagie hat zentrale Aufgaben in der Zelle und im Organismus. Bei Hunger und anderem Stress stellt sie Energie und Bausteine für zelluläre „Organe“ bereit. Nach einer Infektion kann sie in die Zelle eingedrungene Bakterien und Viren beseitigen. Und sie dient als Qualitätskontrolle, bei der schadhafte Proteine und Zell-Organe ausgemustert werden. Gestörte Autophagie-Prozesse werden mit Leiden wie Parkinson und Typ-2-Diabetes („Alterszucker“) in Verbindung gebracht.

Komplizierter wird das Bild, wenn man eine Krankheit wie Krebs betrachtet. Hier gibt es auf der einen Seite Indizien dafür, dass die Autophagie das Tumorwachstum unterdrückt und das Entstehen einer Geschwulst verhindern kann. Andererseits fördert sie offenbar das Überleben und weitere Wachstum von Krebszellen.

Immer deutlicher wird, dass Autophagie bei der Absiedlung von Tumorzellen in andere Organe, der Metastasenbildung, eine unrühmliche Rolle spielt. Sie soll das Überdauern „schlafender“ Krebszellen, das Streuen von Tumorzellen in den Kreislauf und ihr Entrinnen vor der Immunabwehr sowie das Überleben besonders gefährlicher Krebs-Stammzellen fördern. Eine Idee ist deshalb, bei Krebspatienten die Autophagie mit Medikamenten zu blockieren.

Video03.10.2016, 16:23 Uhr00:40 Min.Medizinnobelpreis geht an Japaner Ohsumi

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