Seit Jahrhunderten horten Museen Tiere und Pflanzen. Nun sollen vier neue Forschungszentren in Deutschland gegründet werden, in denen die Informationen aus naturkundlichen Sammlungen besser zugänglich und nutzbar gemacht werden sollen.

Alles andere als Staubfänger. Neue Techniken machen Museumspräparate für Forscher wieder interessant.

Ein junger Mann watet am Ufer des Bear River in Utah entlang. Es ist der 11. August 1916, Sonne und Mücken stechen, und Frank Alexander Wetmore müht sich, nach einer toten Zimtente nun auch eine Schwarzkopfruderente aus dem Schilf zu bergen. Seit drei Jahren beobachtet der 27-jährige Vogelforscher für das US-Büro für Biologische Studien die Wasservögel der Region und sammelt nebenbei tote Exemplare ein. Noch in seiner Station am Bear River präpariert Wetmore die Enten, bald darauf gelangen sie in die ornithologische Sammlung des Smithsonian in Washington, des größten Naturkundemuseums der Welt. Über eine halbe Million Vögel stauben dort in Tausenden von Schubladen und Vitrinen ein, mitunter seit über zwei Jahrhunderten. Und das ist ein Glück. Denn mit den von Wetmore gesammelten Enten wird fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod das Rätsel der größten Grippeepidemie der Menschheitsgeschichte gelöst.

Hunderte Millionen von Tieren und Pflanzen lagern in den Naturkundemuseen der Welt, weltweit gesammelt von Biologen wie Wetmore. 30 Millionen taxonomische Objekte hat allein das Berliner Naturkundemuseum in seiner zweihundertjährigen Geschichte zusammengetragen. Ein Schatz, der dank neuer Techniken jetzt gehoben werden kann und soll, so empfiehlt es ein Plan der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. „Heute können moderne Analysemethoden das Verständnis bisher verborgener komplexer Zusammenhänge in unserer Umwelt in bisher nie dagewesenem Maße erweitern“, sagt Präsident Jörg Hacker. Heute legt eine Arbeitsgruppe der Leopoldina ein Gutachten vor, in dem die „Herausforderungen und Chancen der Taxonomie für Forschung und Gesellschaft“ diskutiert und die Gründung von vier Taxonomie-Kompetenzzentren in Deutschland empfohlen wird. Damit soll die Wissenschaft von der Entdeckung, Beschreibung und Klassifizierung der Lebewesen künftig besser zu Innovationen in Medizin und Landwirtschaft beitragen.

Spanische Grippe in uralten Enten

Denn was manch einem als ein Haufen wertloser toter Tiere und Pflanzen vorkommen mag, wird von Forschern verschiedenster Disziplinen immer häufiger als „Archiv des Lebens“ genutzt. Molekularbiologische Techniken aus der Genomforschung können heute selbst einem Schmetterling von 1861 noch genetische Informationen entlocken. Sensitive chemische Analysetechniken können die Todesursache von längst ausgestorbenen tropischen Fröschen ermitteln. Museumspräparate werden auf diese Weise zu Zeitmaschinen, mit denen die Entstehung neuer Arten, ihre Anpassung an den Klimawandel, Umweltkatastrophen oder – wie mit Wetmores Enten – die Entstehungsgeschichte menschlicher Krankheitserreger nachvollzogen werden können.

Als der Virusforscher Jeffrey Taubenberger im Sommer 2002 im Smithsonian auf eben jene Enten starrt, die einst der junge Wetmore einsammelte, schlägt sein Herz höher. Denn in Taubenbergers Augen sind die gewöhnlichen Enten unendlich wertvoll. Sie sollen ihm helfen, die Ursache der „Spanischen Grippe“ zu entschlüsseln, die 1918 schätzungsweise 50 Millionen Menschen das Leben kostete. Jahrelang hatte Taubenberger versucht zu verstehen, woher das Grippe-Virus vom Typ H1N1 stammte und wie es von Vögeln auf den Menschen überspringen konnte. In den Enten vom Bear River, die kurz vor Ausbruch der Grippe-Pandemie 1916 verendeten, findet er endlich Reste des Virus-Erbguts. Und die Analyse verrät ihm, dass die Viren sich schon in Vögeln so stark verändert hatten, dass sie 1918 wahrscheinlich von Vögeln direkt auf den Menschen übersprangen. Eine verheerende Pandemie folgte. Seitdem wissen Forscher, dass sich dieses Szenario mit heutigen Grippe-Varianten wiederholen könnte.

Weiche Eierschalen durch DDT

Als Biologen mit dem systematischen Sammeln von Pflanzen und Tieren begannen, dachte noch niemand an Erbguttests. Geschweige denn an die Möglichkeit, dass sich die Entstehungsgeschichte menschlicher Infektionskrankheiten mithilfe uralter Enten nachvollziehen lassen könnte. Zu Wetmores Zeiten war noch nicht einmal die Existenz von Grippe-Viren bekannt. Es gibt viele solche Beispiele, wie uralte Präparate zur Lösung wissenschaftlicher Rätsel beitragen. So beobachteten Biologen in den 1950ern, dass Wanderfalken sich nicht mehr vermehrten, erzählt Johannes Vogel, Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums. Ihre Eier zerbrachen unter dem Gewicht der Elterntiere. Der Ornithologe Derek Ratcliffe ging daraufhin in die Sammlungen. Anhand der dort über Jahrzehnte gesammelten Eier stellte er fest, dass die Schalendicke abnahm, seit das Pestizid DDT in Großbritannien eingesetzt wurde. Ratcliffes Analyse half, DDT zu verbieten. „Dafür sind diese Eier nie gesammelt worden“, betont Vogel. Man könne nicht erahnen, wie viele wissenschaftliche Fragen morgen mit einer Sammlung beantwortet werden könnten. So fand der Paläopathologe Florian Witzmann eher zufällig eine Verwachsung am Skelett eines 150 Millionen Jahre alten Dinosauriers im Berliner Naturkundemuseum. Sie entpuppte sich als Spur der Paget-Krankheit, die durch Viren ausgelöst wird. Ein Beweis, dass Viren mindestens seit 150 Millionen Jahren existierten.

Selbst aus hundert Jahre alten, präparierten Vögeln lässt sich noch genug Erbgut isolieren, um Viren oder von damals nachzuweisen.

Solche Ergebnisse sind spektakulär. Doch Vogel hat auch wirtschaftliche Argumente, Sammlungen nicht links liegen zu lassen, sondern besser nutzbar zu machen. „Vor einiger Zeit ist eine Bohrfliegenart nach Afrika eingeschleppt worden“, sagt Vogel. Da die Fliegen Rinder befallen, alarmierte die Weltgesundheitsorganisation Londoner Experten, die mithilfe der Referenzsammlungen die Fliege identifizierten und die Ausbreitung stoppten. „Das hat vermutlich Milliardenschäden verhindert.“

Klimastudien leichtgemacht

Gerade im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels werden selbst die ältesten und staubigsten Präparate aus den Archiven zu begehrten Forschungsobjekten. Denn da sich das Klima über Jahrzehnte und Jahrhunderte erwärmt hat, sind auch die Auswirkungen auf die Arten nur in Langzeitstudien möglich. Während eine Feldstudie über zwanzig Jahre viel Geld kostet, ist der Blick zwanzig Jahre zurück mithilfe der in Museen gesammelten Exemplare vergleichsweise günstig.

In der Praxis lassen sich die Sammlungen dafür bislang nur eingeschränkt nutzen. Will ein Forscher aus Neuseeland wissen, ob eine bestimmte Vogelart von einer europäischen Expedition vor zweihundert Jahren gesammelt wurde, muss er sich nach London ins Museum begeben – eine Online-Datenbank mit allen jemals gesammelten Objekten gibt es (noch) nicht.

Das soll sich nun ändern. „Die Sammlungen müssen in neuer Weise erschlossen werden“, sagt Vogel. Im Naturkundemuseum werden die Präparate bereits in Form von Fotos und mitsamt allen dazugehörigen Informationen weitgehend automatisch digitalisiert und für eine Datenbank aufbereitet, die Forscher weltweit nutzen können. Die 30 Millionen Berliner Objekte könnten so innerhalb von zehn Jahren online stehen – 85 Mitarbeiter und ein Budget von 60 Millionen Euro wären dafür nötig, schätzt Vogel.

Die laut Vogel von der Leopoldina vorgeschlagenen Taxonomie-Kompetenzzentren sollen eine „kritische Größe“ schaffen, um die deutsche Taxonomie international konkurrenzfähig aufzustellen und nützliche Innovationen wahrscheinlicher zu machen. Für jeden der vier Standorte – Frankfurt, München, Bonn und Berlin – bräuchte es etwa 15 bis 20 Millionen Euro Erhöhung des Grundetats der beteiligten Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. „Gemessen am Forschungsetat der Bundesrepublik ist das ein geringer Betrag, der aber eine Wissenschaft stützen würde, die für die Wertschöpfung wichtig ist“, sagt der Museumsdirektor.

Naturkundliche Sammlung sind bioökonomisches Kapital

Die Mittel könnten auch aus dem Budget der Bioökonomie-Initiative kommen, meint Vogel. Schließlich sei deren Ziel, das Potenzial der Natur zur Lösung dringender Zukunftsprobleme zu nutzen. „Ein Prozess namens Evolution sucht und findet seit vier Milliarden Jahren Lösungen für alle möglichen Probleme.“ Man brauche Taxonomen, um diesen Prozess zu verstehen und wirtschaftlich nutzbar zu machen. „Dafür sind Naturkundemuseen ursprünglich gegründet worden“, sagt Vogel. So war der Naturforscher Joseph Banks nicht nur Wissenschafts-, sondern auch Wirtschaftsminister und habe die britischen Sammlungen aufgebaut, weil der Handel mit natürlichen Rohstoffen Basis der britischen Wirtschaft war.

Adressat der Forderungen nach mehr Unterstützung für die Taxonomie sei aber nicht allein die Politik. Auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Leibniz-Gemeinschaft seien herausgefordert, sagt Vogel. „Wir würden uns freuen, wenn der neue Präsident der Leibniz-Gemeinschaft daran denkt, wenn er neue Akzente setzt.“

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