Schon lange wird über die Karten, die der Polynesier Tupaia für James Cook anfertigte, gerätselt. In Potsdam kommen Forschende einer Lösung jetzt näher.

Inselbegabung. Diese Kopie einer Polynesien-Karte Tupaias schickte Georg Forster 1776 an seinen Verleger.

Geschwungene Linien zogen sich von Tupaias Rückgrat über seine Hüften: Muster, mit Kohle, der Tinte des Lichtnussbaumes und gespitzten Vogelknochen unter die Haut gestochen – die Zeichen der Arioi. Schon als Kind war Tupaia als Mitglied dieser Geheimgesellschaft ausgewählt worden, die Oro diente, dem höchsten Gott der polynesischen Insel Raiatea. Als 1757 Krieger von der Nachbarinsel Bora-Bora auf Raiatea einfielen, wurde Tupaia dazu bestimmt, die Heiligtümer des Oro zu bewahren und an eine sichere Stätte zu bringen – nach Tahiti.

Jahre später, im April 1769, ging dort ein Schiff aus Europa vor Anker: James Cooks Endeavour. In einem Gemenge aus englischer und polynesischer Sprache kamen Tupaia und der Entdecker stockend ins Gespräch. Schnell merkten die Briten, welches Geschick der Polynesier bei Navigation und Orientierung an den Tag legte. Ein orts- und sprachkundiges Besatzungsmitglied dürfte den Europäern durchaus nützlich erschienen sein. Am 13. Juli 1769 stach Tupaia auf der Endeavour in See.

Rund 250 Jahre später und ziemlich genau am gegenüberliegenden Punkt des Erdballs sitzen Anja Schwarz und Lars Eckstein in ihrem Büro der Universität Potsdam und beugen sich über einen Laptop. Der Bildschirm zeigt eine Seekarte, die über die Jahrhunderte zum kartografischen Mythos gereift ist – die Karte von Tupaia, die er an Bord der Endeavour erstellte.

War Tupaia ein Meisternavigator oder ein Blender?

In drei Versionen ist die Karte noch erhalten, und seit Jahrzehnten streiten Forscher um ihre Deutung und ihre Bedeutung für die polynesische Kultur: Ist die Karte falsch oder nur unlesbar? Ist sie Zeugnis einer hoch entwickelten polynesischen Erkenntnislehre, die parallel zu europäischen Modellen der Weltanschauung funktionierte, oder ist sie Kristallisationspunkt einer romantisierenden Verklärung dieser vermeintlichen Wissenschaft? War Tupaia Meisternavigator und begabter Kartograf, oder vielmehr begnadeter Erzähler und Blender?

Anja Schwarz und Lars Eckstein hatten eine Abschrift von Tupaias Karte immer wieder in ihren Vorlesungen behandelt. Beide sind Experten für postkoloniale Studien, und die Karte war ihnen ein griffiges Beispiel für alternative Wissenssysteme – ohne sie wirklich im Detail zu betrachten. Doch durch Zufall erfuhren die beiden, dass die Karte von Tupaia auch im Braunschweiger Stadtarchiv zu finden ist, und zwar in einer Version, die sie noch nicht kannten. Diese von dem deutschen Naturforscher Georg Forster angefertigte Kopie weckte die Neugier der Potsdamer Wissenschaftler.

Bald schon brüteten Schwarz und Eckstein ganze Tage lang über historischen Insellisten, Seekarten und Tagebüchern, werteten deutsche Quellen aus, die in der anglophonen Wissenschaft lange unterrepräsentiert waren und trugen Details zusammen, von denen einige bisher übersehen worden waren. Ihre Ergebnisse haben sie nun im „Journal of Pacific History“ veröffentlicht.

Drei Karten entstanden über ein halbes Jahr hinweg

Über vier Wochen hinweg überließ James Cook seinem Gast das Amt des Navigators. Oft beobachtete Tupaia die Europäer beim Zeichnen von Karten, irgendwann muss er dann selbst seine ersten Schritte als Kartograf unternommen haben. Von mehr als 130 Inseln konnte Tupaia berichten. Einige hatte er selbst bereist, andere kannte er aus den Überlieferungen seiner Ahnen. Wie aber konnte er den Europäern sein Wissen auf eine Art beweisen, die sie verstanden? Konnte er sie gar überzeugen, weiter durch Polynesien zu segeln? Denn möglicherweise erhoffte sich Tupaia von den Briten Unterstützung für eine Rückeroberung Raiateas. Der Kapitän jedoch hatte eine geheime Order: für die britische Krone den sagenumwobenen Südkontinent zu entdecken, die Terra australis incognita. Für weitere Exkursionen durch die polynesische Inselwelt fehlte die Zeit. Aber auch ihm dürfte daran gelegen haben, dieses Wissen für spätere Reisen zu bewahren.

Forscherin Schwarz ist überzeugt, dass alle Beteiligten um den Wert des jeweils anderen Wissens wussten: „Beide Seiten haben sich große Mühe gegeben, sich gegenseitig zu verstehen und ihre Erfahrungen zu teilen.“ Cook und seine Männer hätten Tupaia eigens Papier, Tinte und Personal zur Verfügung gestellt, erklärt Lars Eckstein. „Die hatten echtes Interesse an seinem Wissen über die Inseln.“

Drei Karten entstanden mutmaßlich über ein halbes Jahr hinweg aus der Kooperation Tupaias mit verschiedenen Besatzungsmitgliedern. Im Original ist keine davon erhalten, doch es existieren drei bekannte Kopien. Keine Einzige ist nach westlichen Maßstäben lesbar. Die Inseln scheinen willkürlich über das Papier verteilt, weder ihre Größe noch ihre Position auf der Karte oder ihre Abstände zueinander stimmen mit heutigen Seekarten überein. Jahrhundertelang versuchten westliche Wissenschaftler, die Karte in ein Koordinatensystem einzupassen oder die Inseln richtig zu verorten, ohne Erfolg. Nach und nach galt die Karte schlichtweg als falsch, Tupaia als Schwindler.

Die dynamische Welt bewegt sich um das Individuum herum

„Es hat nur niemand einen Weg gefunden, die Karte zu lesen“, sagt Erik Pearthree, der mit seiner Kollegin Anne Di Piazza über die Besiedelung Polynesiens und traditionelle pazifische Techniken der Navigation forscht. „Mit der Zeit haben sich zwei Lager gebildet. Die einen dachten, die Karte sei nur ein wilder Mix verschiedener Inselnamen“, erzählt der Wissenschaftler. Die anderen dagegen hätten den Fehler bei den Europäern gesucht, denn die späteren Zeichner veränderten die Karte im Zuge ihrer Abschriften teilweise stark.

In der westlichen Seefahrt kamen über die Jahrhunderte immer genauere Messgeräte zum Einsatz, um einen aktuellen Aufenthaltsort möglichst absolut und objektiv zu bestimmen. Land- und Seekarten zeigen ein scheinbar genaues Abbild der Welt, durch die wir uns hindurchbewegen. Fährt der Betrachter zum Beispiel mit dem Finger über eine Wanderkarte, kann er eine Route simulieren, wie er sie am nächsten Tag begehen will. Die polynesische Seefahrt hingegen geht nicht davon aus, dass der Reisende sich durch eine fixe Welt bewegt. Vielmehr bewegt sich eine dynamische Welt um das Individuum herum. Inseln etwa tauchen aus dem Meer auf und nähern sich einem Kanu, das im Zentrum der Wahrnehmung steht. So muss ein Segler laufend seine Umgebung neu bewerten, er muss immer wieder Sternfolgen über dem Horizont erkennen und Winde, Sonnenstand, Strömungen oder Wellen lesen, um den Status der Welt zu aktualisieren.

Der Norden ist auf der Mitte der Karte vermerkt

Diese Denkweise lässt sich schlecht in starre Schemata zwängen. In den 1990er Jahren waren Anne Di Piazza und Erik Pearthree über zwei Jahre hinweg immer wieder in Segelkanus durch die Südsee geschippert, um die polynesische und die eng verwandte mikronesische Kunst der Navigation zu erforschen. Dabei wurde deutlich, dass der Lesende sich stets neu auf der Karte verorten muss, um mithilfe von Tupaias Karte zu navigieren.

Anja Schwarz und Lars Eckstein griffen diesen Gedanken auf und ergänzten ihn um ein entscheidendes Konzept: den Norden. Den hat Tupaia mittig auf den Karten vermerken lassen, als Avatea, zu Deutsch Mittag, der durch die Position der Sonne an ihrem höchsten Punkt markiert ist – auf der Südhalbkugel also der geografische Norden. Um von einer der eingezeichneten Inseln zu einem Ziel zu gelangen, muss der Leser der Karte zunächst von dort aus eine gedachte Linie über den zentral eingezeichneten Norden ziehen. Eine zweite Peilung erfolgt gleichermaßen von der Ausgangsinsel zur Zielinsel. Der Winkel zwischen beiden Linien ist nun in Graden ablesbar, ganz ähnlich, wie Tupaia sie auf Cooks Kompass kennengelernt hat. Er gibt den Kurs zum Ziel vor. Verglichen mit modernen Karten erweisen sich diese Winkel als erstaunlich präzise. Die Abweichungen betragen meist weniger als fünf Grad.

Zwei völlig unterschiedliche Systeme der Wissenschaft

Auch für die ungewöhnliche Anordnung der Inseln haben Eckstein und Schwarz eine Erklärung. Die Karte zeigt keinen abstrakten Lageplan der Inseln, vielmehr ist sie das Abbild mehrerer Reisewege durch den Südpazifik – eine auf Papier gebannte Sequenz von Inseln, wie sie ein polynesischer Seefahrer, eine nach der anderen, von einem bestimmten Ausgangspunkt aus mit seinem Kanu abgesegelt hätte. Die Distanzen zwischen den Inseln finden sich nicht in der Karte. Doch die Winkel und die jeweils einzuschlagende Richtung lassen sich zuverlässig ablesen. Jene Informationen also, die als Grundlage dienen für eine Reise, bei der so lange der Kurs gehalten wird, bis das Ziel zu sehen ist.

Tupaia hat, das legt die Theorie nahe, eine Brücke geschlagen zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition, zwischen subjektiver, ganzheitlicher Navigation und möglichst objektiven Messungen und Plänen und damit zwischen zwei völlig unterschiedlichen Systemen der Wissenschaft. Sollten sich die Annahmen der Forschenden aus Potsdam bestätigen, wäre Tupaia als Kartograf und Navigator rehabilitiert.

Lars Eckstein und Anja Schwarz selbst scheint es unwahrscheinlich, dass sie restlos alle verbliebenen Rätsel um Tupaias Karte gelöst haben. Sie hoffen, dass ihre Ansätze in Polynesien aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Dort also, wo vielleicht noch nicht alle Geschichten vergessen sind und das Wissen über die traditionelle polynesische Navigation fortleben konnte.

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