Der Brexit schwächt Großbritannien in der Wissenschaft. Viele Forscher zieht es jetzt an andere Orte. Auch die Berliner Unis bereiten sich auf die Zeit nach dem Brexit vor – könnten sie sogar profitieren?

Kleinbritannien. Viele internationale Forschungsverbindungen zwischen Großbritannien und EU-Ländern werden vom Brexit gestört oder…

Wie schafft man es, als britische Wissenschaftlerin nach Deutschland zu wechseln? Diese Frage bekommt die Kulturanthropologin Sharon Macdonald, die 2015 als Professorin aus York an die Humboldt-Universität kam, derzeit häufiger von Kolleginnen und Kollegen aus der Heimat gestellt. „Ich kenne einige, die Großbritannien den Rücken kehren wollen“, sagt Macdonald und erzählt, wie „unfassbar traurig“ sie der Brexit stimmt: „Mir fällt kein einziger Vorteil ein, für die Wissenschaft nicht und für Großbritannien nicht.“ Hätte sie nicht von vorneherein vorgehabt, langfristig in Berlin zu bleiben, würde sie sich spätestens jetzt dafür entscheiden: „Die Aussicht, nach Großbritannien zurückzukehren, ist durch den Brexit deutlich unattraktiver geworden. Ich bin erleichtert, in Berlin forschen zu können.“

Noch ist Großbritannien mit seinen berühmten Universitäten Oxford und Cambridge die Nummer eins in der europäischen Wissenschaft. Doch der Brexit könnte in der Wissenschaft eine Bewegung Richtung Kontinentaleuropa in Gang setzen, wie sie sich ähnlich zum Beispiel in der Finanzbranche abzeichnet. Sharon Macdonald hat bereits von einer Uni gehört, deren Leitung sich eine Liste erstellen ließ, welche Wissenschaftler aus Großbritannien man jetzt am besten abwerben könne. Das war keine deutsche Hochschule, betont Macdonald. Aber auch die Berliner Hochschulen bereiten sich auf die Zeit nach dem Brexit vor – um sich gut positionieren zu können.

Vom Brexit profitieren wollen? Das weist man an Berlins Unis weit von sich

Den Eindruck, die Berliner Universitäten könnten oder wollten vom Brexit profitieren, weisen zwar alle Beteiligten weit von sich. „Wir frohlocken nicht“, sagt Sabine Kunst, Präsidentin der Humboldt-Universität. „Und wir werben auch nicht aktiv Wissenschaftler ab. Das wäre unanständig. Hier hält die Solidarität mit unseren britischen Partnern.“ TU-Präsident Christian Thomsen spricht gar von einer „Katastrophe für die Wissenschaft“.

Gleichwohl ist derzeit ein „munterer Reisezirkus“ von und nach Großbritannien im Gange, sagt Kunst. Da geht es etwa darum, die bestehenden Kooperationen zu sichern. Mit rund 170 Einrichtungen auf der Insel arbeitet allein die HU in gemeinsamen Forschungsprojekten zusammen. Rund 1900 Publikationen habe man mit britischen Partnern in den vergangenen fünf Jahren veröffentlicht, davon 763 mit der Uni Oxford, ähnlich viele mit der Uni Edinburgh. „Das sind ganz außergewöhnlich gute Verbindungen, die wollen wir unbedingt erhalten“, sagt Kunst.

So sucht die HU – wie die FU und die TU – schon jetzt mit den Partnern nach Alternativlösungen für das Erasmus-Programm, um nach dem Brexit einen Studierendenaustausch zu ermöglichen: „Es denkt eigentlich niemand mehr, dass es mit Erasmus genauso weitergehen wird wie bisher“, sagt Kunst.

Die HU-Präsidentin beobachtet auch, dass an der HU gerade bei den Stellen für Nachwuchswissenschaftler die Zahl der internationalen Bewerber in letzter Zeit steigt, eben weil sich der Blick von jungen Forschern verstärkt nach Kontinentaleuropa richte. Als Kunst unlängst zu einer großen Konferenz in London war, bemerkte sie, dass „vor allem die jungen Leute am Überlegen sind, nicht in England zu bleiben“. Bisher seien im Rahmen der EU-Forschungsförderung viele Nicht-Briten an britische Unis gegangen. „Die werden möglicherweise künftig andere exzellente Unis in Europa wählen, auch in Berlin“, sagt Kunst.

Mehr Bewerbungen aus Großbritannien

Die TU verzeichnet ebenfalls verstärkt Bewerbungen von Wissenschaftlern aus Großbritannien. „Ob das ein langfristiger Trend ist, kann man noch nicht sagen“, sagt Präsident Thomsen. Die TU setze alles daran, ihre Verbindungen nach Großbritannien – derzeit 65 Kooperationen – zu halten. Die TU lag früher in West-Berlin im britischen Sektor, daher sei die Uni den Briten sehr verbunden, sagt Thomsen und denkt dabei auch an den Besuch der Queen an der TU vor zwei Jahren.

Bayern hat schon eine Delegation von Politik und Unipräsidenten nach Großbritannien entsandt, um Forscher zu umwerben. Noch hat Berlins Staatssekretär für Wissenschaft Steffen Krach eine ähnliche Tour nicht geplant, will sie aber nicht ausschließen: „Wir wollen gute Möglichkeiten bieten, dass Wissenschaftler nach Berlin kommen.“ Er verweist auf den Besuch des Regierenden Bürgermeisters und Wissenschaftssenators Michael Müller in Los Angeles. Müller präsentierte in Kalifornien ein Stipendienprogramm der Einstein-Stiftung, das auf die von der Trump-Regierung ungeliebten Klimaforscher zielt. „Als weltoffene Wissenschaftsstadt ist es unsere Aufgabe, solche Angebote zu unterbreiten“, sagt Krach.

Dass sich der nahende Brexit schon jetzt negativ auf die britischen Unis auswirkt, legen nicht nur Berichte wie die von Sharon Macdonald nahe, sondern auch Zahlen des „Guardian“. Mehr als 1300 Wissenschaftler aus der EU haben laut der Zeitung die britischen Unis im vergangenen Jahr verlassen – 30 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor. Am meisten betroffen war ausgerechnet das ehrwürdige Cambridge. Europäische Unis scheuen sich bereits, britische Partner für EU-finanzierte Projekte an Bord zu nehmen. Schließlich ist ungeklärt, wie es mit der Finanzierung nach dem Brexit weitergehen wird. „Gemeinsame EU-Anträge mit britischen Unis gehen deutlich zurück“, bestätigt HU-Präsidentin Kunst. Ähnliches ist aus der TU zu hören, nur die FU sieht dafür „noch keine Anzeichen“, wie eine Sprecherin mitteilt.

Wie geht es weiter? Viele Fragen sind offen

Wenig beruhigt haben dürfte die britische Hochschulen ein unlängst vorgelegtes Positionspapier der Regierung, in dem sie darlegt, wie sie sich eine Post-Brexit-Zusammenarbeit mit der EU in der Wissenschaft vorstellt (das gesamte Papier findet sich hier). Zwar strebt die Regierung darin ein „ambitioniertes“ Abkommen an, so „eng“, wie die EU es sonst mit keinem anderen Land habe. Das sind Lieblingsfloskeln von Premierministerin Theresa May. Was aber mit „ambitioniert“ konkret gemeint ist, bleibt offen. Unter welchen Voraussetzungen werden Wissenschaftler in Großbritannien arbeiten? Wie hart werden die Visa-Auflagen für Neuankömmlinge? Können Familien mitkommen? Werden sich britische Hochschulen weiter an EU-Programmen beteiligen können? All das steht in den Sternen.

Kommt es zu einem harten Brexit, könnten die britischen Unis als Ausweg Zweigstellen auf dem europäischen Festland aufmachen. Das hat Julia Goodfellow, die damalige Vorsitzende der britischen Hochschulrektorenkonferenz, schon vor einem Jahr im Tagesspiegel-Interview nicht ausgeschlossen. Mit diesen Zweigstellen erhofft man sich Zugang zu EU-Mitteln, sollte Großbritannien komplett aus allen EU-Wissenschaftsprogrammen ausscheiden.

Und so sollen sich einige britische Unis bereits Richtung Frankreich orientieren, während sich andere in Deutschland umgucken. Zu hören ist, dass auch die Berliner Wissenschaft mit Kooperationspartnern dahingehend im Gespräch ist. Aufsehen erregte in England im Sommer ein Bericht der BBC, das Londoner King’s College wolle einen Campus in Dresden aufbauen, in enger Zusammenarbeit mit der dortigen TU, mit der die Londoner bereits kooperieren. Beide Unis wiegelten allerdings ab: Es handele sich um „eine erste Idee, konkrete Planungen gibt es noch nicht“. Die britischen Unis halten sich derzeit öffentlich lieber bedeckt, was eine mögliche Expansion nach Europa angeht: Man möchte nicht als fahnenflüchtig dastehen, bevor der Brexit überhaupt verhandelt ist.

Die Dichte der wissenschaftlichen Einrichtungen in Berlin beeindruckt

„Würde sich eine Top-Uni aus Großbritannien oder aus den USA in Berlin engagieren, könnte das eine wunderbare Ergänzung für unsere Hochschullandschaft sein. Wir empfangen sie mit offenen Armen“, sagt Staatssekretär Krach. Fraglich ist allerdings, ob ein Ableger tatsächlich EU-Mittel beantragen könnte. Insider denken, die EU-Kommission würde sehr genau hinschauen, wenn britische Unis auf diesem Weg einen harten Brexit umgehen wollen. TU-Präsident Thomsen fordert die britische und die deutsche Regierung denn auch auf, über Kompensationen und Finanzmittel für eine Sonderpartnerschaft in der Forschung zwischen beiden Ländern nachzudenken.

Die HU-Forscherin Sharon Macdonald diagnostiziert indes eine „Selbstgefälligkeit“ bei der britischen Regierung, was die Wissenschaft angeht. Diese verlasse sich allzu sehr darauf, dass das britische Hochschulsystem allein wegen der globalen Wissenschaftssprache Englisch einen Vorteil gegenüber anderen Ländern habe. Dass längst auch ihre Doktoranden in Berlin Promotionsprogramme auf Englisch absolvieren, dringe nicht immer bis nach London durch. „Die britischen Unis waren immer gut aufgestellt. Aber zu denken, das geht ewig so weiter, ist zu einfach“, sagt Macdonald. Natürlich gebe es auch Nachteile in Deutschland, wie die Bürokratie an der Uni. Aber die Forschungsförderung sei hierzulande inzwischen besser, der Enthusiasmus der Berliner Kollegen enorm und die Dichte der wissenschaftlichen Einrichtungen gerade in den Geisteswissenschaften „unglaublich“: „Da kann Großbritannien manchmal nicht mehr mithalten.“

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