Anfang Januar sank ein Frachter der deutschen Brise-Reederei vor Schottland. Es war eines der schwersten Schiffsunglücke der vergangenen Jahre. Die Besatzung verschwand ohne ein letztes Zeichen. Was hat sie überrumpelt? Versuch einer Rekonstruktion.

25 Stunden lang blieb die Cemfjord im Pentland Firth unentdeckt.

Man glaubt es nicht. Das Schiff unter einem neigt sich, man denkt, das steckt das weg. Richtet sich schon wieder auf. Es neigt sich weiter. Man denkt: Komm schon! Aber das Schiff wird zur Seite gezogen von einer Kraft, die stärker ist als alles, was man kennt. Stärker als alles, was man sich vorgestellt hat. Es kann nicht …, denkt man, und die Möglichkeit, dass es vielleicht doch …, erlaubt man sich nicht zu Ende zu denken. Man glaubt es einfach nicht. Aber es kippt.

Die Kaffeetasse, falls es sie gibt, verliert ihren Halt, poltert ins Leere. Man klammert sich an den Steuerstand, an irgendetwas Festes. Kollegen rufen Dinge. Es kracht. Scheppert. Stahl vibriert. Da ist es zu spät für einen Notruf. An das Funkgerät kommt man nicht mehr heran. Oder man erstarrt einfach, weil sich das eigene vertraute Leben in diesem Augenblick wie von Geisterhand umstülpt.

Am Nachmittag des 3. Januar wird die schottische Fähre Hrossey auf dem Weg von den Orkney-Inseln nach Aberdeen eine schauerliche Entdeckung machen. In der Nordsee sichtet sie einen Schiffsrumpf, auf der Seite liegend, halb versunken, treibend. Wie ein verendetes Tier. Die Hrossey hatte ihre Abfahrt in Kirkwall um mehrere Stunden verschoben wegen „voraussichtlich ungünstiger Wetterbedingungen“, wie es in einer Mitteilung hieß. Nun, kaum zwei Stunden unterwegs, umkreist sie den mysteriösen Schiffsrumpf. Am Bug ist der Name geschrieben, deutlich lesbar. Cemfjord. Der Frachter wird von der deutschen Brise-Reederei betrieben.

Nach einer Weile treffen Rettungsboote und eine Fregatte sowie Hubschrauber ein, um die Suche nach Überlebenden auszudehnen. Doch sie finden niemanden. Der Bug ragt noch Stunden senkrecht in die Luft. In der Nacht sackt der Schiffskörper weg, verschwindet im Meer.

An Bord befanden sich acht Besatzungsmitglieder

An Bord der Cemfjord befanden sich außer dem Kapitän Pawel Chruscinski sechs weitere polnische Seeleute sowie ein Ingenieur von den Philippinen. Für sie war der Trip von Aalborg im Norden Dänemarks nach Runcorn bei Liverpool Routine. Das Schiff hatte die Strecke seit September 2005 bereits 49 mal zurückgelegt. Nun wird seine Mannschaft vermisst.

„Was auch immer geschehen ist“, sagt ein Seenotretter nach der erfolglosen Suche, „es muss sehr schnell gegangen sein. Es ist verrückt.“

Die britischen Behörden haben mit der Untersuchung des Wracks begonnen. Es liegt in 70 Meter Tiefe. Sonaraufzeichnungen zeigen es kopfüber auf dem Meeresboden. Man müsse sich in Geduld üben, heißt es.

Das ist normal für das Meer. Alles auf See geschieht langsam. Stürme brauchen Stunden, um ihre Kraft zu entfalten. Noch Tage später schwingt die Dünung nach. Und Schiffe bewegen sich mit dem Tempo von Fahrradfahrern vorwärts. Umso rätselhafter ist das Schicksal der Cemfjord. Was kann sie überrumpelt haben?

„Alles ist weiß“, sagte der Schiffsingenieur – dann brach der Kontakt ab

Die Frau des Schiffsingenieurs hat am Mittag des 2. Januar noch mit ihrem Mann telefoniert. Er sei auf der Brücke gewesen, berichtete sie dem polnischen „Fakt“-Magazin. „Alles ist weiß um mich“, habe er gesagt, „so etwas habe ich noch nie gesehen.“

Dann brach der Kontakt ab. Die Ehefrau habe es mehrmals versucht, aber es kam keine Verbindung mehr zustande. Ihr Mann war Ausbilder für Rettungskräfte auf See, bevor er bei Brise anheuerte. Wenn einer wisse, wie man überlebt, meint seine Frau, dann Jaroslaw O., 54 Jahre alt.

Der Cemfjord-Untergang ist einer der schwersten Schiffsunfälle der vergangenen Jahre. Dass Schiffe ohne ein letztes Zeichen akuter Gefahr untergehen, kommt äußerst selten vor. Handelsschiffe sind neben Funkgeräten mit Seenotbarken ausgerüstet, die sich im Katastrophenfall automatisch aktivieren. Bei der Cemfjord ist das nicht passiert.

„Niemand hier im Hafen hat ein Unglück dieser Art je erlebt“, sagt William Monroe mit schleppender Ruhe. Er hat bei der Suchaktion eines der Rettungsboote kommandiert, ist Mechaniker im Hafen von Scrabster, und aus Gründen, die ihm unerfindlich sind, wird er von seinen Leuten „Wing“ genannt. Die meisten Seenotretter arbeiten im Hafen oder in dessen Nähe. In sieben Minuten müssen sie ihr Boot startklar haben.

Wing muss lange zurückdenken, um einen mit der Cemfjord vergleichbaren Fall in der Gegend zu erinnern. Einmal sei ein Trawler spurlos verschwunden, da war er selbst noch ein Kind. Man erzählte es sich an der Küste. Die Erwachsenen steckten die Köpfe zusammen. Aber dass keiner überlebte? Nocan’trrremamba.

Trotzdem sagt Wing, „hier muss man stets auf der Hut sein, man kann nie wissen“. Selbst dass sich die Retter in den Gewässern besonders gut auskennen, schütze sie nicht, fügt er hinzu. So kam die siebenköpfige Besatzung des Longhope-Rettungsbootes 1969 ums leben, als sie einem in Schwierigkeiten geratenen sibirischen Handelsschiff zur Hilfe eilte. Das Boot verschwand ohne ein Zeichen. Man fand es später umgeworfen und zertrümmert im Strom. Jede Familie des Ortes, aus dem die Retter stammten, verlor einen Mann. „Es ist egal, wie viel du weißt, du musst sehr vorsichtig sein“, sagt Wing.

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  • Was geschah mit der Cemfjord?
  • Die Einheimischen haben den gefährlichsten Stellen Namen gegeben
  • Kapitän Miroslaw Bracha wird der Letzte sein, der die Cemfjord sieht
  • Ein Kamerateam lieferte den überzeugendsten Beleg für Riesenwellen
  • Wenn die Cemfjord den Bedingungen nicht gewachsen war, warum war sie dort?

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