Ein sorgenfreies Leben, das Paradies in der Sonne – so stellen sich Auswanderer die Insel Mallorca vor. Doch viele Deutsche landen auch auf der Straße.

Im Zentrum. Nicht nur viele Spanier, sondern auch hunderte Deutsche betteln auf den Straßen von Palma um Geld.

Manfred sitzt auf einem Stück Pappe. Er arbeitet. Die Menschen rauschen von der Avenida Comte de Sallent auf die Plaza España, vorbei an dem stämmigen Kerl in Shorts. Er hockt zwischen einem Spätkauf und der Bar Crystal. Um Manfred herum ist es staubig. Aber wenigstens ist es für diese Jahreszeit recht warm, auch für mallorquinische Verhältnisse. Neben ihm döst eine Labradormischung im Dreck. Manfred, 58 Jahre alt, wirkt so unbeteiligt wie sein Hund. Er schaut auf die achtspurige Straße, die den größten Platz im Zentrum von Palma im Norden begrenzt. In der linken Hand hält er einen kleinen Plastikbecher. „In drei Stunden mache ich 18 Euro“, sagt er.

Durch das schmucke Zentrum von Palma strömen tausende Touristen. Am Strom sitzen Menschen, die Geld brauchen. Rund um den Plaza Major sind es die Afrikaner, die auf Bettlaken ausgebreitet Gucci-Plagiate und falsche Markenuhren anbieten. In Windeseile klauben sie alles zusammen, wenn sich die Polizei nähert. An den Kircheneingängen sitzen alte Frauen aus Osteuropa. Aggressiv bettelnd und nach einer Spende den Spender segnend. Und an den Plätzen im Zentrum herum sitzen – die Deutschen.

An wohl keinem anderen nicht deutschsprachigen Ort in Europa gibt es so viele deutsche Menschen ohne Bleibe wie in Palma auf Mallorca. Schätzungen zufolge sollen es auf der gesamten Insel 2000 sein. Für offizielle Stellen ist dieses Thema aber anscheinend unangenehm. Weder die Ausländerbehörde in Palma oder das deutsche Konsulat auf der Insel wollen sich auf Anfrage dazu äußern – und verweisen auf das Auswärtige Amt in Berlin, das auch zu keiner Stellungnahme bereit ist. Das mag auch schwer sein: Obdachlose sind meist nicht erfasst. Ein Flug nach Mallorca aus Deutschland kostet kaum 100 Euro. Wer einmal auf der Insel ist als EU-Bürger, ist auf der Insel.

Dabei ist obdachlos zu sein in Palma nicht romantischer als im Rest der Welt. Erst im Juli vergangenen Jahres verstarb der deutsche Obdachlose René Becker auf einer Bank am Flughafen von Palma. Der gebürtige Mainzer war nach Informationen der Tageszeitung „Diario de Mallorca“ bereits sechs Stunden tot, bevor dies ein Passant entdeckte.

Prominente hier, Obdachlose da

Palma, die größte Stadt auf Mallorca. Der Urlaubsinsel, 17. Bundesland. Sonne, sorgenfreies Leben. Paradies für Auswanderer und Feiersüchtige. Deutsche, die nach Mallorca auswandern, suchen ihr Paradies in kleineren Orten abseits der Großstadt, etwa in dem herauspolierten Küstenort Puerto Andratx, wo sich die Luxusjachten im Hafen drängeln oder auf einer Finca im Innern der Insel. Allerdings kommt, wer kein Geld mitbringt, oft nicht weit, auch weil die Kultur der Inselbewohner speziell ist. Nicht nur die spanische Sprache ist die Grundlage, um die komplizierte kulturelle Konfliktgemengelage der Inselbewohner zu verstehen.

Sie sprechen mallorquin, jedes Schulkind muss das inzwischen wieder lernen. Selbst die vielen Spanier vom Festland kommen da oft nicht mit. Aber verstehen wollen die meisten Deutschen ja erst gar nicht, sie wollen ein Deutschland unter Palmen. Diese Parallelwelt von Mallorca ist seit den 1950er Jahren gewachsen, mit den ersten Neckermann-Reisen und mit vielen Facetten, bis nach ganz unten. Wer kein Geld hat und keins verdienen kann, fällt durch. Bis in die Obdachlosigkeit – wie Manfred aus Dortmund. Er kommt jeden Tag an seinen Arbeitsplatz. Seit zehn Jahren ist er auf der Insel, seit drei Monaten nun mit Arbeitsplatz Bürgersteig. Er hätte als Maler gearbeitet, sagt er. „Aber eines Tages schaue ich auf mein Konto und stelle fest, dass meine Frau zugeschlagen hat.“ 30 000 Euro seien plötzlich futsch gewesen. Die Frau verschwunden. Angeblich hat er noch eine Wohnung, in der er aber nicht wohne.

30 000 Deutsche sind auf der Insel mit ihren gut einer Million Einwohnern laut einer Auswertung des spanischen Statistik-Instituts vom April 2014 gemeldet, das ist aber nach Schätzungen der deutschsprachigen „Mallorca Zeitung“ nur knapp die Hälfte der auf Mallorca permanent lebenden Bundesbürger, die sich oft in einer deutsch geprägten Infrastruktur bewegen, mit deutschen Lokalen und Geschäften. Die deutsche Infrastruktur fängt die meisten Menschen auf. Wer pleitegeht, hat vielleicht Freunde, die ihm weiterhelfen. Doch meist zieht der private Konkurs auf Mallorca die Rückkehr nach Deutschland nach sich.

Warm und sauber ist es in Palma

Wege in die Obdachlosigkeit gibt es viele. Alkohol und Drogen sind die gängigen Begleiter. Ein älterer Spanier, der sich in einer Altstadtgasse um Hilfe suchende Alkoholiker kümmert, sagt: „Wir haben oft Deutsche hier. Wären sie nicht Alkoholiker, dann wären sie auch nicht obdachlos.“ Ähnliches berichtet ein Kollege, der in einer kleinen Einrichtung am Placa de la Quartera arbeitet. 124 kleine Pakete mit warmer Mahlzeit in Tupperdosen, Brot und Getränk hat er an diesem Tag ausgegeben, mehr als zehn davon an Deutsche. Doch nicht jeder trinkt.

Manfred, der 57 Jahre alte Mann aus Dortmund, riecht nicht nach Schnaps. Er sieht fast erholt aus, braun gebrannt von der Sonne. Er sagt: „Im Prinzip geht es mir gut auf Mallorca, hier gibt es einfach bessere Möglichkeiten zu überleben als anderswo.“ Überleben auf den Straßen in Palma ist kein Luxus, aber einfacher als andernorts. So kalt wie in Deutschland wird es nie, es friert auch in den Winternächten kaum. Palma sei eine herrliche Stadt, sagt Manfred. Vor allem sei es sauber in Palma. Er schnippt eine Kippe zur Seite, die vor seine Füße geweht ist.

Martin ist da pragmatischer. „Mallorca ist schön, aber nicht wenn du auf der Straße lebst“, sagt er. Anders als Manfred will er schnellstmöglich zurück nach Deutschland. Martin ist 27 Jahre alt, aus Stuttgart und sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, direkt neben McDonald’s. Sein Lächeln offenbart eine große Zahnlücke. Die Nähte an seiner schwarzen Kapuzenjacke sind eingerissen. Die schwarzen Sandalen halten gerade noch an den Füßen zusammen. Auf einem Zettel, der neben Martin auf der Pappe liegt, steht: „Ich habe Hunger.“ In drei Sprachen. Auf Deutsch, Spanisch und Englisch.

Deutsche Parallelwelten

Zweieinhalb Monate sei er hier, sagt Martin. Schlafen sei schwierig. Ein festes Nachtquartier habe er nicht. Martin wechselt ständig zwischen Parkbänken, geschlossenen Bankeingängen oder Häusereingängen. Er brauche Geld, um Anzeige bei der Polizei zu erstatten, sagt er. Weil ihm der Pass geklaut wurde. Das deutsche Konsulat habe nur zwischen neun und zwölf geöffnet. Ihm fehlen noch 30 Euro bis 16 Uhr. Es ist halb zwei.

Die Straßen von Palma haben ihre kleine deutsche Parallelwelt. Es gibt die Geschäfte und Cafés für die deutschen Touristen. Auch Prominente wie Claudia Schiffer oder Boris Becker schauen hier mal vorbei. Doch an dem deutschen Touristenstrom sitzt der gesellschaftliche Rand. Die Menschen, die die meisten Touristen nicht sehen wollen. Langfristig, sagt ein Mönch aus einer Armenküche, helfe gar nichts. „Die Obdachlosen aus Deutschland gehen meistens zurück, oder sie sterben hier. So wie alle anderen.“

Ein abgestürzter Abenteurer wie Martin will weg, Manfred will nicht auf den Straßen von Palma sterben. Aber zurück nach Deutschland, vor den Dortmunder Hauptbahnhof? „Auf keinen Fall!“, sagt er. In die Kälte? Er wäre ja schön doof. Hier sei sein Zuhause. Und wer weiß, vielleicht wird es ja doch noch etwas. Wenn er die Wohnung endlich verkauft habe, „dann wird alles gut“, sagt er. „Auf der ganzen Insel werden wir Kunden haben. Mit einer Internetseite in drei Sprachen.“ Manfred hat ihn immer noch nicht aufgegeben, seinen Traum von Mallorca.

Mitarbeit: Susanne Vetter

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