Im Ruhrgebiet sind Bergbau und Fußball eins. Wirklich? Ein Besuch bei Wolfgang Hill, der Jahrzehnte unter Tage gearbeitet hat und kein Spiel der Königsblauen aus Gelsenkirchen verpasst, beseitigt alle Zweifel.

An dem Tag, an dem der damalige Zweitligist Schalke 04 gegen Bayern München mit 5.6 in der Verlängerung zurückliegt, als inoffiziell 78.000 Zuschauer im Gelsenkirchener Parkstadion immer noch auf eine Sensation hoffen, als also im Mai 1984 eines der dramatischsten Spiele im DFB-Pokal läuft, macht Wolfgang Hill seine Kumpel in der Zeche Auguste Viktoria bei Marl glücklich. „Ich habe die Radio-Reportage über das Telefon auf die Lautsprecheranlage unter Tage gelegt. So konnten die 200 Kumpel, die meisten davon natürlich Schalker, das ganze Spiel mitfiebern!“

Die Zeit drängt – im Parkstadion brechen die letzten Sekunden an, in der Zeche der Schichtwechsel. Hill ist dabei, die Verbindung zu trennen, hat aber den Hörer noch in der Hand. In dieser Sekunde knallt der 18-Jährige Olaf Thon mit seinem dritten Treffer den Ball aus spitzem Winkel unter die Latte. Hill hat heute noch Gänsehaut: „Ich muss Euch noch etwas mitteilen, habe ich gesagt: 6:6. Und dann war da unten nur noch ohrenbetäubender Jubel!“

In der Glückauf-Kampfbahn gleich neben dem „Kaiser“

Wolfgang Hill, der – natürlich – zu Hause mit Kohle heizt („Vier Tonnen pro Jahr!“) steht wie kein Zweiter für die im Ruhrgebiet so typische Verbindung zwischen Bergbau und Fußball. 25 Jahre hat er als ausgebildeter Elektriker unter Tage für das Steinkohlebergwerk Auguste Viktoria gearbeitet, zuletzt im Schacht 8 – „Samstage, Sonntage, ich habe mein ganzes Leben für den Bergbau gegeben“ – und seit über einem halben Jahrhundert ist er glühender Anhänger vom FC Schalke 04.

„Unter Tage hatte ich nur einmal eine Lungenentzündung“ – sein halbes Leben hat Hill im Bergbau verbracht

An sein erstes Spiel erinnert sich Hill wie heute: 23.Oktober 1965, Glückauf-Kampfbahn, gegen Bayern München, ein 1:1. „Mein Vater war auch Schalker durch und durch und hat mich damals mitgenommen, und plötzlich stand Franz Beckenbauer vor mir. Und dann weiß ich noch, dass ich furchtbar geweint habe, weil die Ordner meine Karte zerrissen haben!“

Schon mit 16 Jahren erste Tage unter Tage

Die „Knappen“ werden zum festen Bestandteil in seinem Leben. „Samstags mit Mutter und Vater zum Spiel, dann in die Kneipe zur Sportschau, danach zu Hause Sportstudio mit Bratkartoffeln und Schnitzel. Und sonntags natürlich zum Training der Schalker“, denkt der 61-Jährige mit einem Lachen zurück.

Zu den Auswärtsspielen von Schalke fährt Wolfgang Hill mit seinem stilgerecht eingerichteten Wohnmobil

Als mit dem Bergbau plötzlich die zweite Konstante in Hills Leben auftaucht, ist sein Vater dagegen alles andere als begeistert: „‘Überleg‘ Dir das gut, Junge‘, hat er gesagt, ‚Denk‘ an Opa und Onkel Gustav, wie die sich unter Tage aufgerieben haben.‘ Aber ich war 16 und das erste Mal unter Tage, da denkt man halt nicht so groß über alles nach.“

Eine Symbiose, die typisch für das Ruhrgebiet ist

Wolfgang Hill hat seinen Entschluss für den Bergbau nie bereut, genauso wenig wie seine Anhängerschaft für Schalke, die ihm auch schon so manches schlafloses Wochenende beschert hat. Doch die Frage bleibt: Woher rührt bei den Zehntausenden Menschen im Ruhrgebiet die Leidenschaft für den Bergbau und den Fußball, wie kommt es zu dieser einzigartigen Kombination?

Drei Sitze aus dem abgerissenen Parkstadion konnte Wolfgang Hill nach Hause retten

Hill, der auch Vorsitzender des Fanklubs „Fantastic Blue Reken“ in seiner nordrhein-westfälischen Heimat ist, muss nicht lange überlegen: „Die Verbundenheit und der Zusammenhalt. Wenn Du unter Tage arbeitest und nicht aufpasst, hat ein Kumpel neben dir direkt ein Problem. Und auf Schalke hast Du einfach auch diese wahnsinnige Gemeinschaft.“

Schalke hält den Mythos Bergbau am Leben

Der Vater von zwei Töchtern streicht noch einmal heraus, dass gerade sein Herzensverein sich immer für die Bergleute stark gemacht hat: „Gerade ist ja diese Nostalgiewelle wegen des Abschieds von der Steinkohle, ausgerechnet von den Politikern, die jahrelang auf uns Kumpel eingeprügelt haben. Die einzigen, die wirklich immer zu uns gehalten haben, waren die Verantwortlichen von Schalke.“

Der Förderturm von Schacht 8, detailgetreu im Maßstab 1:20 – im Garten von Hills Nachbarn Heinz-Wilhelm Hardes

Der Spielertunnel, der einem Bergwerksstollen gleicht, das Steigerlied, das kurz vor jedem Anpfiff ertönt, die jährlichen Grubenfahrten der Spieler – der Verein aus dem Ruhrpott hält das Image des „Kumpel- und Malocherklubs“ hoch. Natürlich ist da bei einem Umsatz von mittlerweile 240 Millionen Euro auch viel Inszenierung dabei, doch mit dem Engagement für die Bergleute meint es der Klub, der einst von Bergleuten gegründet wurde, ernst: Gerade jetzt wieder beim Heimspiel gegen Bayer Leverkusen, bei dem 2.000 Kumpel in voller Montur Abschied von der Steinkohle nehmen.

18. Dezember, 18.30 Uhr auf Schalke – der große Abschied

Wolfgang Hill wird auch im Stadion sein, wie bei fast jedem Heim- oder Auswärtsspiel in den letzten 15 Jahren. Und zusammen mit seiner Frau Uschi, die genauso vom Schalker Virus infiziert ist, Platz nehmen im Block 26, nahe der Schalker Nordkurve mit den treuesten Fans.

Klar, dass da auch die eine oder andere Träne bei ihm fließen wird: „Natürlich ist das ein trauriger Moment für mich. Besonders, wenn das Steigerlied gespielt wird, werden sicher viele Erinnerungen hochkommen. Aber die Zeit unter Tage, die war trotzdem einfach nur schön!“

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