Nach der Europawahl ist vieles denkbar: YouTuber machen Politik, die Grünen erstarken. Und das alles wegen junger Menschen, die plötzlich politisch werden – und sich anschicken, eine eigene Agenda zu setzen.

Mit Leidenschaft fürs Klima: „Friday for Future“-Anhänger in München Ende Mai

Am Abend des 26. Mai konnte jeder für einen kurzen Moment erahnen, was es bedeutet, wenn fast 20 Millionen Menschen ihre Stimme erheben. Der Abend der Europawahl zeigte: Junge Menschen interessieren sich für die Welt um sie herum – und sie sind laut.

Die Wahlbeteiligung stieg, Altparteien mussten mit Schrecken beobachten, wie ihre Zustimmungswerte fielen, die Klimapartei Bündnis 90/Die Grünen triumphierte: alles ein Verdienst der jungen Wähler. Keine andere Partei schnitt in Deutschland so gut bei unter 30-Jährigen ab wie die Grünen.

Schon jetzt wird deshalb in Deutschland von einer neuen, politisierten Generation gesprochen. Vergleichbar nur mit den jungen Wilden der 1968er Jahre, die in Deutschland Werte der Nachkriegszeit in Frage stellten. Ähnlich wie vor über 50 Jahren könnte auch diese Klima-Generation den althergebrachten Politikbetrieb aufmischen, neue Werte schaffen, eine eigene Agenda setzen. 

Auslöser Klima

In Deutschland leben mehr als 19 Millionen Menschen unter 25 Jahren. Im Westen des Landes umfasst das rund 24 Prozent der Bevölkerung, im Osten 19 Prozent.  

Nicht alle von ihnen dürfen schon wählen, aber die Bewegung „Fridays for Future“ hat es geschafft, viele zu mobilisieren. Mitte März rief die Umweltbewegung zum ersten weltweiten Klimastreik auf, Ende Mai folgte der zweite.

Über 300.000 Menschen, meist Schüler und Studenten, demonstrierten auch in Deutschland, viele zum ersten Mal. Eine stichprobenartige Befragung auf der ersten Klimademo Mitte März, durchgeführt vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung, ergab, dass rund 31 Prozent der Schüler und Studierenden zuvor noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatten.

Greta Thunberg hat die Klimabewegung in Schweden begründet. Sie gilt vielen der jungen Klimaschützer als Vorbild. „Greta Thunberg hat einen Damm gebrochen. Sie wird in die Geschichte eingehen als der Mensch, der den Diskurs verändert hat. Mit Fridays for Future haben junge Menschen, die unter 18 sind und nicht wählen dürfen, das erste Mal gespürt, wie es ist, die Weltagenda mitzugestalten“, sagt Jugendforscher Simon Schnetzer. Er gibt die Jugendstudie „Junge Deutsche“ heraus.

Weiblich, jung, ungebunden  

Derzeit wirkt es in Deutschland so, als habe ein ganzes Land plötzlich seine Bürger unter 30 Jahren entdeckt. Studierende werden in die wichtigsten politischen Talkshows im Fernsehen eingeladen und zieren das Titelbild des renommierten Nachrichtenmagazins „Spiegel“. Dabei zeigt sich nur, was sich schon lange angebahnt hat. Schon die „Shell Jugendstudie“ hielt 2015 fest, dass im Vergleich zu 2002 statt 30 Prozent nun bereits 41 Prozent der Jugendlichen erklärten, politisch interessiert zu sein. 

Eines hat sich allerdings in den letzten Jahres verändert: Die neue Protestkultur ist weiblich. Eine Untersuchung der Technischen Universität Chemnitz hat ergeben, dass die „Fridays for Future“-Proteste in Amsterdam, Florenz, Warschau und Wien zu 70 Prozent von Demonstrantinnen geführt wurden.

Die neue Protestkultur bewegt sich abseits von Institutionen. Schon 2016 gaben in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nur 16 Prozent der politisch Engagierten an, im engeren Sinne politisch aktiv zu sein, also als Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft. Anna Nell steht für diese neue Form des politischen Engagements. 

Anna Nell von „Junges Freiburg“ ist kritisch gegenüber etablierten Parteien

Die 19-Jährige lebt in einer der jüngsten Städte Deutschlands, ganz im Süden des Landes: in Freiburg. Dort engagiert sie sich bei „Junges Freiburg“, einer Gruppe parteiloser junger Menschen, die sich für den Stadtrat bewerben. „Die Europawahl hat gezeigt, was für eine riesige Welle die Jugend gerade schafft. Wir müssen jetzt ernstgenommen werden“, sagt Nell. Sie meidet die großen Parteien, da es dort zu lange dauere, bis man gehört werde.   

YouTube als Katalysator  

Sich Gehör zu verschaffen, geht mittlerweile anders. Die jungen Engagierten haben einen mächtigen Verbündeten: die sozialen Netzwerke. Kurz vor der Europawahl sorgte das Video des deutschen YouTubers Rezo für Aufregung. Darin kritisierte er die großen Volksparteien CDU und SPD vor allem für deren mangelhaften Klimaschutz. Das Video wurde über 14 Millionen Mal angeklickt. In einer Videobotschaft rieten anschließend über 70 bekannte deutsche YouTuber davon ab, CDU oder SPD zu wählen.

Zu den Unterstützern Rezos gehört auch die YouTuberin Diana zur Löwen. Mit ihren mehr als 600.000 Abonnenten ist sie eine echte YouTube-Größe. Vor allem für ihre Mode- und Beauty-Videos bekannt, setzt sie zunehmend auf politische Inhalte. Sie hat ein Video über Abtreibung gedreht und vor der Europawahl mit dem EU-Parlament zusammengearbeitet. Unter ihren Videos zeigen sich ihre Anhänger begeistert von den neuen politischen Themen. „YouTube ist mit mir gewachsen“, sagt Diana zur Löwen der DW. „Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich gar nicht mehr wusste, was um mich herum passiert.“ Ihr neues politisches Interesse wolle sie mit ihren Zuschauern teilen.

Die Youtuberin Diana zur Löwen will ihren Zuschauern mehr politische Inhalte bieten

Für die Politikwissenschaftlerin und Gründerin des „Y-Politik“-Podcasts Tanja Hille ist gerade der Einfluss von Social Media Stars, die normalerweise keine politischen Inhalte kreieren, entscheidend. „In meiner Generation war es noch so, dass wir uns Informationen aktiv beschaffen mussten“, sagt die 27-Jährige. „Heute werden jungen Menschen durch YouTuber wie Diana zur Löwen die politischen Themen ins Haus getragen. Sie müssen sich damit beschäftigen. Auch deshalb war Rezos Video so erfolgreich.“ Auch Rezo war zuvor nicht für politische Inhalte, sondern für Unterhaltungsvideos bekannt.  

Unbeholfene Politik

In der Politik ist das Erstarken der jungen Stimmen noch nicht angekommen. In den Parteien im Bundestag finden sich nur wenige Abgeordnete jüngerer Jahrgänge.  

Und auch im Umgang mit neuen Kräften wie Influencern zeigen sich große Parteien noch ungelenk. Auf das YouTube-Video Rezos antwortete die CDU-Parteizentrale mit einem 11-seitigen PDF im Netz. „Wer so reagiert, hat die Jugend nicht verstanden. Das liest doch keiner durch“, meint Anna Nell aus Freiburg.

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Die junge CDU-Politikerin Diana Kinnert sagt im Gespräch mit der DW: Das Konzept „Partei ist unattraktiv auf hundert verschiedenen Ebenen. Junge Menschen sind nicht unpolitischer geworden; sie engagieren sich nur anders.“

Auch YouTuberin Diana zur Löwen kritisiert vor allem die Abwehrhaltung der Parteien. „Ich glaube, was viele satt haben, sind Politiker ohne Herzblut. Wir wollen wieder Leidenschaft sehen, und auch mal Politiker, die uns auf Instagram mitnehmen in ihren Alltag.“

Politik neu denken 

Noch wird die „Fridays for Future““-Bewegung vor allem von gebildeten jungen Menschen aus der Mittelschicht getragen. Und so überparteilich, wie es scheint, ist die Bewegung nicht: Einige der bekanntesten „Fridays for Future“-Vertreter in Deutschland sind Mitglieder der „Grünen“ und der „Linken“. 

Aber die Europawahl hat bereits gezeigt, dass junge Menschen in der Lage sind, die politische Agenda zu setzen. „Ich denke, dass wir erst den Anfang sehen. Der Politikbetrieb wird aufgemischt, weil die jungen Menschen nicht nur extrem meinungsstark sind, sondern es auch schaffen, wahnsinnig viele Menschen zu erreichen“, sagt Jugendforscher Schnetzer.

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